Ich werde passivisiert |
Das Nichtschulabitur
Von Charlotte Noack „Was tun?“ fragt Lenin und bezieht sich in seiner Rede auf einen gleichnamigen Roman von Tschernytschewsky. Das Buch handelt von einer bürgerlichen Frau, die ihre Zeit dazu gebraucht, ein Kollektiv von Frauen zu organisieren, die sich selbst finanzieren und unterrichten, kurz, die ihrem Leben einen Sinn geben. Einen Sinn aus sich selbst heraus zu finden war etwas, das ich, selbst als großer Tschernytschewsky-Fan völlig verlernt hatte. Gruseligerweise ohne es selbst zu merken.Ich hätte mich immer als unabhängigen, freien Menschen bezeichnet, der die Schule liebt. Eine von denen, die genug auf dem Kasten haben, nie etwas tun zu müssen um durchzukommen und die Zeit dazu nutzen sich zu langweilen, mit Freunden zu unterhalten und auszuprobieren, ob und wie man sich in der Chemiestunde die Nägel lackieren kann.
Aber als mir eines Tages ein Lehrer eine Arbeit mit den Worten zurückgab, sie sei sehr gut, aber er glaube, sie sei noch nicht ganz fertig und ich sollte mich doch noch ein bisschen mit ihr auseinandersetzen, war ich perplex. Mein erster Gedanke sah ungefähr folgendermaßen aus: „Häh? Wieso, ich hab doch meine Note und der Abgabetermin ist doch sowieso längst vorbei, wieso soll ich mich denn da nochmal ran setzen?“ Irgendwo war mir aber nicht ganz wohl bei dieser Reaktion, also nahm ich die Arbeit an. Erst als ich mich über Monate hinweg nicht dazu motivieren konnte, mich nach der Schule hinzusetzen und den Text zu überarbeiten, ohne Abgabetermin und ohne Zweck, fiel mir die Idiotie meiner Situation auf:
Ich gehe in die Schule, damit ich etwas lerne, aber der Effekt des Systems ist, dass ich vollkommen vergesse, dass ich etwas lernen will, sondern vielmehr mich in einer Pflichtsituation befinde, in der ich eine gewisse Leistung erbringen muss, um in Ruhe gelassen zu werden. Den Rest der Zeit will ich bitteschön für mich haben. Dass die Schule eigentlich ein Dienst ist, der mir erbracht wird, damit ich die Chance habe mir bei meinen Lehrer Rat und Hilfe zu holen, geht völlig unter in dieser Entverantwortlichungsmaschine, als die die Schule funktioniert.
Wenn ich Erwachsene frage, was sie z.B. im Chemieunterricht gelernt haben, bekomme ich Antworten wie: „Oh, da saß ich neben einem, der konnte so toll zeichnen.“ Oder: „Ich habe auf einem karierten Blatt 60 Kästchen eingezeichnet und für jede Minute ein Kästchen ausgemalt“ (sie erinnern sich nicht einmal mehr daran, dass eine Schulstunde nur 45 Minuten hat). Daraus schließe ich, dass ich nur einen Bruchteil des in der Schule gelernten Stoffes behalten werde. Wenn das aber der Fall ist, so geht man eigentlich in die Schule, um andere Dinge zu lernen. Solche Dinge wie Texte zu schreiben, sich selbst zu disziplinieren und Verantwortung in Gruppen zu übernehmen. Genau diese Dinge aber lerne ich nicht, sondern im Gegenteil, ich werde passivisiert.
Im Bann meiner neuen Erkenntnis, begann ich mit allen meinen Freunden darüber zu diskutieren. Wir erfanden nach und nach eine Schule, die für uns ideal wäre. Fest davon überzeugt, dass man Dinge auch ermöglichen kann, wenn man sie nur will, fanden wir auch einen Weg: Das Nichtschülerabitur. Nachdem wir uns beim Kultusministerium noch einmal genauer Informiert hatten, stand mein Entschluss fest und ich begann meine Lehrer über mein baldiges Ausscheiden zu informieren. Nur eine Freundin von einer anfangs größeren Gruppe machte schließlich wirklich mit. Ohne sie wäre alles deutlich schwieriger geworden. Sowohl einige Lehrer als auch viele Privatpersonen waren erstaunlich enthusiastisch und unterstützungsbereit.
Nach einem halben Jahr Planung konnten wir beginnen und meldeten uns einfach nach der elften Klasse von der Schule ab.
Unser Lernen sieht jetzt folgendermaßen aus: Wir treffen uns, ganz dem Schulalltag gemäß jeden Tag um acht Uhr und arbeiten, abhängig von unserer Konzentration, bis zwei oder vier. Englisch und Französisch machen wir jeden Tag eine viertel Stunde, da Sprachen nach regelmäßiger Übung verlangen. Ansonsten lernen wir epochal, jede Woche ein Kurshalbjahr lang nur ein Fach. Es gibt vier Kurshalbjahre für jedes Fach und acht für die Leistungskurse, da wir uns in acht statt in fünf Fächern prüfen lassen müssen. So kommen wir auf 30 Wochen. Das ist deutlich weniger als ein Jahr in der zweijährigen Oberstufe (ca. 40 Wochen). Dadurch haben wir mehrere Wochen, die wir für Eigeninteressen nutzen können, zum Beispiel ein Thema von einem anderen Gesichtspunkt her bearbeiten, oder endlich mal alle Filme sehen, die man während der Berlinale gerne sehen würde. Da die Oberstufe aber zwei Jahre hat, wiederholen wir alle Themen. Im ersten Jahr, das wir gerade abschließen, häufen wir alles Wissen an, das die Themen erfordern: Z.B. sich mit den wichtigsten Demokratietheorien auseinandersetzen. Im zweiten Jahr werden wir lernen, dieses Wissen auch anbringen zu können; wie hält man einen guten Vortrag? Wie schreibt man eine Erörterung? Usw. Selbstverständlich benötigt man für das zweite Jahr das im ersten erarbeitete Wissen, gleichzeitig wiederholt man durch den Vortrag das Wissen des Vorjahrs. Besonderen Wert legen wir dabei darauf, zu lernen wie wir uns selbstständig kritisieren und verbessern können.
Zurzeit sind wir sehr zufrieden und überzeugt, genau den für uns richtigen Weg zu gehen, denn selbst wenn unsere Abiturnote leiden sollte -was uns das Schulamt prophezeit hat- haben wir viel Verantwortung, Politik und vor allem viel über uns selbst gelernt.
Was wir uns immer sagen, wenn es mal nicht so gut läuft: „Es ist untragbar in der Schule zu sitzen, sich zu beschweren und trotzdem nichts zu ändern, aber wenn wir zurück in die Schule gehen müssen, wissen wir wenigstens, warum wir dort sind!“.
http://www.adz-netzwerk.de/Ich-werde-passivisiert.php
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