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Lernen Lernen lernen mit dem persönlichen Lernnetzwerk. Wie im digitalen Zeitalter eigensinnig und gemeinsam gelernt wird

Hier mein  (Lisa Rosas, a.d.V) Vortrag auf der #relearn der re:publica 13 verschriftlicht:

Oft wird viel zu früh danach gefragt, wie sich „die Bildung“ – verstanden als Unterricht und Lehre – zu verändern habe, noch bevor überhaupt begriffen worden ist, wie sich das menschliche Lernen mit dem Leitmedienwechsel verändert. Und dann gibt es eben die bekannten Kurzschlüsse. Schon historisch gesehen macht es jedoch keinen Sinn, Lernen und institutionalisiertes Lehren als Einheit zu denken. Denn Schule als allgemeinbildende Pflichtschule existiert ja noch nicht mal 1/300 der Zeit, die die ohne Schule trotzdem ständig lernende Menschheit schon existiert.
Ich beschäftige mich heute daher nicht mit Schule oder Hochschule, sondern mit dem Lernen.
Das Motto der Republica,  in/side/out, habe ich mir folgendermaßen interpretiert: Inside out! Im Sinne von „umkrempeln“, „auf Links drehen“, „wenden“. Wenn etwas kaputt ist oder wenn ich etwas nicht verstehe, muss ich das Innenleben nach außen wenden, um Einsicht ins Betriebssystem zu gewinnen. Denn nur so kann ich erkennen, warum etwas nicht richtig funktioniert. Manchmal liegt es daran, dass ein Betriebssystem nicht zu den aktuellen Umweltbedingungen passt. Wie beim Schirm, der darum bei Sturm kaputt geht. Und ich denke, dass es mit dem, was traditionell unter Lernen verstanden wird, eben auch so ist: Das traditionelle Lernverständnis passt nicht mehr zu den jetzigen Umweltbedingungen, die das tatsächliche Lernen längst verändert haben.
Inside out ist also auch insight out! : Heraus mit der Erkenntnis!
Mir geht es um Einsichten in die Folgen des Leitmedienwechsels sowohl für die Art und Weise des Lernens als auch für die Inhalte des Lernens. Die Digitalität gibt die Prinzipien, das Betriebssystem vor, mit denen die Gesellschaft kommuniziert. Kommunikationen sind soziale Beziehungen. Genau genommen besteht Gesellschaft aus Kommunikationen. Und Wissen bzw. Lernen als das Produzieren von Wissen ist an diese Kommunikationen und seine Bedingungen gebunden.
Ivan Illich hat schon 1970 etwas Wesentliches klargestellt – damals anlässlich der Sprachlabore als „neue Sau“ im Unterrichtsdorf:
Die Alternative zur Abhängigkeit von Schulen ist nicht, öffentliche Gelder für ein paar neue Geräte auszugeben, die die Menschen “lernen machen”.
Sie besteht stattdessen in der Entwicklung einer neuen Art von Lern-Beziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt.
(Ivan Illich 1970, Education Without School. How it Can Be Done.)
Lernen ist der Operationsmodus der Beziehung zwischen dem Menschen und seinen Umwelten. Und diese ist kulturhistorisch konkret, d.h. sie verändert sich im Laufe der Menschheitsgeschichte. Das kann man in Epochen oder für unsere Zwecke hier vereinfacht auch in Jahrhunderten zeigen:
19th Century LiteracyLiteracy verstehe ich allgemein als die grundlegende Lerntätigkeit, die gekonnt werden muss, um an der Gesellschaft teilnehmen zu können.
Im 19. Jahrhundert heiß das, vorgegebenen „Stoff“ aufnehmen, im Gedächtnis behalten und in passenden Situationen anwenden zu können. Der „Stoff“ erscheint dabei als der einzige Inhalt, aber es ist nicht der einzige, nur der einzige explizite. Implizit wird mitgelernt, wie man ihn lernt. Aber eben nicht bewusst. Übertragbarkeit auf andere „Stoffe“ ist damit fraglich; autodidaktisches, absichtliches selbst-ermächtigtes Lernen unwahrscheinlich.
20th Century LiteracyLernen lernen, also explizit zu lernen, wie man absichtlich lernt, wird schon im 19. Jh. von Humboldt, und dann das ganze 20. Jh. über immer wieder von der Reformpädagogik eingefordert – und doch bis heute nur sporadisch umgesetzt.
Der explizite Lerninhalt soll nicht mehr nur der Gegenstand 1. Ordnung sein, sondern auch wie er zu lernen ist. Dabei wird seine Bedeutung bewusst. Der Stoff – immer verstanden als „gesellschaftlich schon vorhandenes Wissen“ verschwindet nicht, aber seine Bedeutung relativiert sich. Das ist notwendig, denn nur so kann gesellschaftlich neues Wissen gebildet werden, denn nur so können Bedeutungen sich ändern.
Und es ist nicht so, wie üblicherweise unterstellt wird, dass man zunächst  jahrelang „Grundlagenstoff“ lernen müsste und erst danach in der Lage wäre, Lernen zu lernen. Es läuft stattdessen parallel, koevolutionär, und das von Anfang an.
Weil das Lernen Lernen aber tatsächlich nicht gelehrt wurde und wird, und so immernur eine dünne Schicht Lernen gelernt hat – zufällig, bei einzelnen ungewöhnlichen Lehrern oder von den (akademischen) Eltern – kann  Alvin Tofflers Statement von 1971 immer noch so revolutionär klingen:
Der Analphabet von morgen ist nicht der Mensch, der nicht lesen kann;
es ist der Mensch, der nicht lernen gelernt hat.
(Herbert Gerjuoy (zit. n. Alvin Toffler) 1971)
Die schlechte Botschaft ist: Lernen lernen – das reicht nicht mehr, nicht mal für heute, und schon gar nicht für morgen. Denn die 21st Century Literacy muss noch eine Stufe weiter gehen. Sie orientiert sich an den Netzprinzipien. Diese bestimmen die Kommunikation, soziale Beziehungen, also auch Wissen & Lernen:
  • offen
  • überall, immer
  • verknüpft
  • multiperspektivisch- intersubjektiv
  • selbstgesteuert
  • personalisiert
Und diese neuen Kommunikations-Prinzipien fordern und fördern historisch besondere, neue Fähigkeiten  – sowohl von Individuen als auch von Organisationen.
Was Andreas Schleicher mit 21st Century Skills meint, habe ich hier mal in einfacher Sprache auf den Punkt gebracht:
Nichts ist objektiv gegeben. Deswegen kann man beim Lernen nichts vorgeben.
Du musst dir deinen eigenen Reim auf die Welt machen.
Du musst dein eigenes Ding machen aus dem, was du in deinen Umwelten vorfindest.
Und wie das geht, das musst du lernen.
Die Voraussetzung dafür formuliert der kanadische Kulturanthropologe Michael Wesch so:
In einer Welt schier unbegrenzter Information(en) müssen wir zuerst nach dem WARUM fragen, dann das WIE ermöglichen und anschließend das WAS wie selbstverständlich daraus herleiten.
(Michael Wesch 2009)
Das heißt, wir müssen für das 21. Jahrhundert einen neuen Rahmen ergänzen, von dem alles ausgeht:
21st Century LiteracyDas ist folgerichtig das “Lernen Lernen lernen”. Oder das Lernen 3. Ordnung. So nennt es auch der Berliner Erziehungswissenschaftler Johannes Werner Erdmann, eine Formulierung von Bernd Fichtner aufgreifend. Und wieder: nicht erst der „Stoff“, dann die Methoden, dann der Sinn, sondern gleichzeitig und von Anfang an.
Ohne Sinn kann man nur auswendiglernend nachäffen, aber nicht verstehen und selbst konstruieren.
Georg Rückriem nennt daher die wichtigste Fähigkeit des 21.Jahrhunderts die Fähigkeit zur persönlichen Sinnbildung. Denn der persönliche Sinn ist nicht für alle gleich und lässt sich heute nicht mehr von Autoritäten vorgeben.
Gemeint ist nicht, dass Lernende ‘von selbst’, also nicht ‘fremdbestimmt’ auf die bereits feststehende Lösung eines Problems kommen, sondern dass sie auf IHRE Lösung kommen.
(Georg Rückriem 2010 in: Lernen und Sinn)
 Die neue Lernbeziehung zwischen dem Menschen und seiner Umwelt (Ivan Illich) muss also v.a. Sinnbildungslernen ermöglichen. Und der 70er Jahre-Toffler müsste 40 Jahre später für heute aktualisiert dann so lauten:
Der Analphabet von morgen ist nicht der Mensch, der nicht lernen kann;
es ist der Mensch, der nicht Lernen Lernen gelernt hat.
Gut, aber was heißt das genau? Ich lege Vygotskijs allgemeine Trias des Lernens zugrunde: Die Notwendigkeit für gelingendes Lernen erstens zu interiorisieren, also Wissen zu verinnerlichen, zweitens zu exteriorisieren, also das eigene Verständnis einer Sache in Artefakten zu vergegenständlichen, um es sich als Lerngegenstand 2. Ordnung vor Augen halten zu können, und drittens zu kommunizieren. Dann könnte man die Mensch-Umwelt-Lernbeziehung unter den Bedingungen von Digitalität (Rückriem) so fassen:
Im 21. Jh. muss ich interiorisieren, indem ich ständig mein Wissen erneuere, es muss mir selbstverständlich werden, mein gestern erworbenes Wissen heute wieder infrage zu stellen. Inwiefern gilt es heute noch, inwiefern nicht mehr?
Meine Lerntätigkeiten dazu sind erkunden, entdecken, erproben, wieder verwerfen und wieder von vorne.
Das Internet ist dafür das Medium Nr. 1; ein konkretes Projekt ist der Bedeutungsrahmen für episodisch enthaltene systematische Lehrgänge. Und das Spielen als Erkenntnismethode hat einen prominenten und seriösen Platz in der Erwachsenenwelt bekommen, nachdem es vor 200 Jahren in die Kindheit verbannt wurde. Lernen bei der Arbeit, Lernen also situiert in Lebenszusammenhängen statt isoliert von ihnen;
personalisiert, eigensinnig und mit dem Ergebnis eines selbst gebildeten Sinns, der weder vorhersagbar ist noch von außen verordnet oder gestiftet werden kann.
Beim Exteriorisieren heißt das sich ständige wechselseitige Verwandeln von Wissen und Nichtwissen, dass alle Ergebnisse nur Skizzen, Entwürfe, Prototypen sind. Weil Lernen nur da möglich ist, wo Nichtwissen ist, sind exteriorisierte Fehler, Irrtümer und Miskonzepte wichtige Voraussetzungen des Lernens. Alles ist vorläufig, dafür aber wird überall und immer gelernt – natürlich personalisiert und eigensinnig. Das heißt für unser Verständnis von Wissen:
Wissen ist kein Produkt mehr, sondern ein Prozess.
(David Weinberger)
Im Dialog, der dritten Komponente der Lerntätigkeit wechseln Wissen und Nichtwissen ständig die beteiligten Personen. Erst weiß der eine etwas, dann steuert eine andere etwas bei. Ohne den permanenten Austausch von Erfahrungen und Ideen mit anderen, kann heute niemand mehr lernen oder Neues entwickeln. Der Denker im einsamen Gelehrten-Stübchen war schon immer ein Mythos. Aber heute ist der Mythos entlarvt.
Ich brauche Austausch für die Tiefe meines Wissens, dazu brauche ich Gleiche in meinen Netzen. Menschen mit Übereinstimmungen in grundlegenden Positionen, an denen ich mich nicht nur reibe, mit denen ich nicht immer bei Adam und Eva anfangen muss, wenn es um einen gemeinsam geteiltes Verständnis geht.
Ich brauche aber auch Austausch für den weiten Horizont, denn sonst schmore ich im eigenen Saft. Filterbubble und Echo chamber sind Warnbegriffe dafür. Staunen, Verblüffung, aber auch Offenheit für Serendipity (also etwas zufällig zu finden) sind Haltungen, die wir trainieren, wenn wir uns eher Fremde und sogar vermeintlich “Verrückte” als Teilnehmer in unsere Netze holen. Und wir können uns daran gewöhnen, unser Wissen nicht für objektiv und allgemein gültig zu halten.
Lokal und global müssen wir uns vernetzen, und „immer und überall in Verbindung zu bleiben” ist wörtlich zu nehmen. Kann, aber muss nicht, selbstverständlich.
Das Wichtigste ist: Teilen, Teilen, Teilen.
Denn Wissen, das nicht im Umlauf ist, ist schon vergessen.
(David Weinberger)
 Wir können uns das Life Long Learning vorstellen wie ein Pulsieren. Wie das Atmen zum Überleben der Physis nie aufhören darf, so darf das Lernen zum Überleben der Gesellschaft nicht aufhören. Wissen ist nicht in den Köpfen, sondern zwischen den Köpfen. Wir müssen also zum Sinnbilden lernen Netzwerken lernen. Und die Netze dafür müssen wir uns selbst bauen und kontinuierlich aktualisieren auf unseren jeweiligen Entwicklungs- und Bedürfnisstand.
Was die digitalen Medienformen (ihr nennt es tools) angeht, könnte ein Persönliches Lernnetzwerk z.B.so aussehen:
PLN2
Lernen & Leben ist dabei nicht mehr unterschieden.
Ich kommuniziere, also lerne, also lebe ich.
All das ist zunächst informell, aber es können sich nonformale, sogar formale Lern-Zusammenhänge daraus ergeben: Aus meinem persönlichen Blog z.B. hat sich eine professionelle Lerngemeinschaft mit anderen Blogs ergeben. Aus der unverbindlichen G+ Kommunikation die Teilnahme an einem MOOC, usw.
Und natürlich kann man auch das gesamte persönliche Netzwerk in formale institutionelle Bildungszusammenhänge stellen: Nämlich dann, wenn die Bildungsinstitutionen endlich ihre Hauptaufgabe im 21. Jh. übernehmen, für jeden Menschen die Bildung und Pflege seines persönlichen Lernnetzwerks zu ermöglichen und zu fördern. Klar expandiert das nicht nur den Klassenraum oder den Hörsaal in die Welt hinein – es sprengt den bisherigen institutionellen Rahmen und schafft schließlich durch die neue gesellschaftliche Praxis einen neuen.


Am zweiten Tag der Republica hörte ich von Nishant Shah den Begriff „toolification“ – seine  Bezeichnung für die gerätefixierte bzw. toolfixierte Vorstellung von digitaler Bildung, die so weit verbreitet ist und die er ablehnt. Eine Bildung, die auf der Schaffung eines persönlichen Lernnetzwerks beruht, ist das Gegenteil davon, denn
Web 2.0 ist keine Technologie, es ist eine Einstellung.
(Stephen Downes)