Sonntag, 18. Dezember 2011

Andreas Helmke in der Zeit über »Individualisierung« des Unterrichts

In der Zeit erschien ein interessanter Artikel von dem Bildungsforscher Andreas Helmke über Individualisierung des Unterrichts.
Interessant deshalb, weil er die 7 G's erwähnt:
"Der gleiche Lehrer unterrichtet alle gleichaltrigen Schüler im gleichenTempo mit dem gleichen Material im gleichen Raum mit den gleichen Methoden und dem gleichen Ziel – das geht nicht mehr. Aber ebenso wenig muss der Lehrer nun für jeden Schüler ein eigenes Lernpaket schnüren und dreißig Förderpläne erstellen."
Dreißig Förderpakete? Na, da wollen wir mal die Kirche im Dorf lassen. Man sagt zwar immer, dass man das Unmögliche fordern sollte, aber Familie habe ich ja auch noch.
Aber, später im Interview, sagt er:
"Gerade kooperatives Lernen stellt hohe Ansprüche an den Lehrer. Das beginnt schon bei der Gruppenbildung. Manche Lehrer teilen einfach nur nach Leistung ein. Dann lernen die guten Schüler im schlimmsten Fall in der einen Ecke des Klassenraums, die schlechten in der anderen. Da kann aus der Binnendifferenzierung ein Akt der Etikettierung und Beschämung werden. Effektiver ist es, wenn leistungsstarke Schüler einmal die Rolle des Lehrers übernehmen und leistungsschwächere Klassenkameraden unterrichten. Aus Sicht der Forschung sind solche Helfersysteme sehr aussichtsreich."
Und kooperatives Lernen finde ich ja gut. Ich glaube, dass ich keine Dreißig Förderpakete schnüren kann, aber ich kann versuchen (!) mittels unterschiedliche Lernszenarien mir Freiräume innerhalb des Unterrichts zu schaffen, bei denen ich gezielt auf bestimmte Schüler zugehe und ihnen Räume schaffe, dass sie auf mich zugehen und wir gemeinsam weiter vorankommen. Dies erscheint mir keine Unmöglichkeit.
In den Kommentaren des Artikels wird nach der Zielsetzung und den gemeinsamen Abschlüssen gefragt - für mich ist Individualisierung und vergleichbare Abschlüsse kein Widerspruch, denn ich helfe den Schüler den eigenen Weg zu dem geeigneten Abschluß zu finden. Und wie wir alle wissen, lernen, arbeiten und organisieren wir uns nicht alle gleich.

Verwandter Artikel auf heimlicher-Lehrplan: http://heimlicher-lehrplan.blogspot.com/2011/11/personalisierung-differenzierung-und.html

Freitag, 16. Dezember 2011

Sarah Kay: Wenn ich eine Tochter haben sollte...

"Wenn ich eine Tocher haben sollte, wird sie mich an Stelle von Mama Plan B nennen..." beginnt die Spoken Word Dichterin Sarah Kay, in einem Vortrag der bei TED2011 zwei Stehbeifälle inspirierte. Sie erzählt die Geschichte ihrer Metamorphose – von einem blauäugigen Teenager, der Gedichte in New Yorks's Bowery Poetry Club in sich aufsaugt zu einer Lehrerin, die durch das Projekt V.O.I.C.E. Kinder mit der Kraft des Selbstausdrucks verbindet – und die zwei atemberaubende Gedichte von "B" und "Hiroshima" vorträgt.

http://www.ted.com/talks/lang/fr/sarah_kay_if_i_should_have_a_daughter.html#.TuuZ3RooKCw.facebook

Schulpflicht muss nicht sein

"Der Mythos: Die allgemeine Schulpflicht in Deutschland garantiert einen geordneten Schulbetrieb. Sie sorgt dafür, dass alle Kinder regelmäßig zur Schule gehen und erfüllt damit vor allem auch eine soziale Funktion. Denn gerade Kindern aus sozial schwachen Familien, in denen die Eltern sich wenig darum kümmern, ob ihr Nachwuchs zur Schule geht, verhilft sie - notfalls auch mit Bußgeldbescheiden oder in Härtefällen mit Polizeieinsatz - zu Bildung.
Die Wirklichkeit: Als die allgemeine Schulpflicht 1871 als Staatsaufgabe in ganz Deutschland eingeführt wurde, waren zwar auch soziale Argumente zu hören - Bildung sollte für das "einfache Volk" zur Verfügung stehen -, im Kern aber ging es um etwas anderes: Nun beanspruchte der Staat die Oberaufsicht über die Bildungseinrichtungen vollkommen für sich allein.
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Das Bildungsmonopol der Kirchen, das diese bis ins 18. Jahrhundert innegehabt hatten, wurde endgültig gebrochen. Heute jedoch wächst endlich die Einsicht, dass der Zwangscharakter der Schulpflicht die Bildungsfreiheiten unnötig einengt. Denn Eltern, die ihre Kinder weder den staatlichen Anstalten noch den konfessionellen oder pädagogischen Tendenzbetrieben wie Waldorf oder Montessori-Schulen anvertrauen möchten, haben keine Möglichkeit, die Bildung ihrer Kinder selbst in die Hand zu nehmen, etwa durch home-schooling, wie in den Vereinigten Staaten. Ein Blick in einige unserer Nachbarländer zeigt, dass auch ohne Schulpflicht keineswegs sofort das Bildungschaos ausbricht.
Nicht nur in den USA, auch in Großbritannien, Dänemark, Österreich oder Finnland besteht keine Schulpflicht. Dort herrscht stattdessen Bildungs- oder Unterrichtspflicht. Das bedeutet: Wo auch immer ein Kind lernt, ob bei den Eltern, bei Privatlehrern oder älteren Geschwistern, regelmäßig wird von staatlichen Institutionen überprüft, ob der Wissensstand demjenigen an öffentlichen Schulen entspricht. Um dieses Stückchen Bildungsfreiheit in Deutschland herzustellen, müsste nicht einmal das Grundgesetz geändert werden. Dort ist zwar die staatliche Schulaufsicht verankert, von einer allgemeinen Schulpflicht aber ist nicht die Rede."

Donnerstag, 15. Dezember 2011

IDEA's Here Reinventin' Education (Ice, Ice Baby IDEA Style)

"It's time to reinvent education. Will you donate your dollars or pledge a few dimes?
Visit http://www.youtube.com/redirect?q=http%3A%2F%2Ffundly.com%2Fdemocraticeducation&session_token=BezKdLWOE7Usiq1d87ly_5i_GWF8MTMyNDA3Nzg5NkAxMzIzOTkxNDk2, and pass it on.

To spread the word about our holiday fundraising goal, IDEA supporters around the country put together this music video, our take on "Ice, Ice Baby" by Vanilla Ice. We didn't spend a penny on it -- this was truly a grassroots effort.

We invited our organizers, staff, board members, youth, and other fans to submit footage. The response was amazing: people responded from seven states, plus Washington, D.C. and Puerto Rico. The fact that we turned the video around in four days is a testament to the national momentum that's growing toward meaningful change in education.

Read more about IDEA at www.democraticeducation.org"
 

Michio Kaku Why would anyone wonna be a cientist?


We are born cientist, and than? What happens?

Answer of Michio Kaku:

http://www.youtube.com/watch?v=fjkVoW4Y3x0&feature=player_embedded

High School Speach: Valedictorian Speaks Out Against Indoctrination Schooling

http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=LD17aDBVhX8#!

"Here I stand
There is a story of a young, but earnest Zen student who approached his teacher, and asked the Master, “If I work very hard and diligently, how long will it take for me to find Zen? The Master thought about this, then replied, “Ten years . .” ?The student then said, “But what if I work very, very hard and really apply myself to learn fast — How long then?” Replied the Master, “Well, twenty years.” “But, if I really, really work at it, how long then?” asked the student. “Thirty years,” replied the Master. “But, I do not understand,” said the disappointed student. “At each time that I say I will work harder, you say it will take me longer. Why do you say that?” ?Replied the Master, “When you have one eye on the goal, you only have one eye on the path.”
This is the dilemma I’ve faced within the American education system. We are so focused on a goal, whether it be passing a test, or graduating as first in the class. However, in this way, we do not really learn. We do whatever it takes to achieve our original objective.
Some of you may be thinking, “Well, if you pass a test, or become valedictorian, didn’t you learn something? Well, yes, you learned something, but not all that you could have. Perhaps, you only learned how to memorize names, places, and dates to later on forget in order to clear your mind for the next test. School is not all that it can be. Right now, it is a place for most people to determine that their goal is to get out as soon as possible.
I am now accomplishing that goal. I am graduating. I should look at this as a positive experience, especially being at the top of my class. However, in retrospect, I cannot say that I am any more intelligent than my peers. I can attest that I am only the best at doing what I am told and working the system. Yet, here I stand, and I am supposed to be proud that I have completed this period of indoctrination. I will leave in the fall to go on to the next phase expected of me, in order to receive a paper document that certifies that I am capable of work. But I contest that I am a human being, a thinker, an adventurer – not a worker. A worker is someone who is trapped within repetition – a slave of the system set up before him. But now, I have successfully shown that I was the best slave. I did what I was told to the extreme. While others sat in class and doodled to later become great artists, I sat in class to take notes and become a great test-taker. While others would come to class without their homework done because they were reading about an interest of theirs, I never missed an assignment. While others were creating music and writing lyrics, I decided to do extra credit, even though I never needed it. So, I wonder, why did I even want this position? Sure, I earned it, but what will come of it? When I leave educational institutionalism, will I be successful or forever lost? I have no clue about what I want to do with my life; I have no interests because I saw every subject of study as work, and I excelled at every subject just for the purpose of excelling, not learning. And quite frankly, now I’m scared.
John Taylor Gatto, a retired school teacher and activist critical of compulsory schooling, asserts, “We could encourage the best qualities of youthfulness – curiosity, adventure, resilience, the capacity for surprising insight simply by being more flexible about time, texts, and tests, by introducing kids into truly competent adults, and by giving each student what autonomy he or she needs in order to take a risk every now and then. But we don’t do that.” Between these cinderblock walls, we are all expected to be the same. We are trained to ace every standardized test, and those who deviate and see light through a different lens are worthless to the scheme of public education, and therefore viewed with contempt.
H. L. Mencken wrote in The American Mercury for April 1924 that the aim of public education is not “to fill the young of the species with knowledge and awaken their intelligence. … Nothing could be further from the truth. The aim … is simply to reduce as many individuals as possible to the same safe level, to breed and train a standardized citizenry, to put down dissent and originality. That is its aim in the United States.”
Comment: The full passage reads: “The aim of public education is not to spread enlightenment at all; it is simply to reduce as many individuals as possible to the same safe level, to breed and train a standardized citizenry, to down dissent and originality. That is its aim in the United States, whatever pretensions of politicians, pedagogues other such mountebanks, and that is its aim everywhere else.”
To illustrate this idea, doesn’t it perturb you to learn about the idea of “critical thinking.” Is there really such a thing as “uncritically thinking?” To think is to process information in order to form an opinion. But if we are not critical when processing this information, are we really thinking? Or are we mindlessly accepting other opinions as truth?
This was happening to me, and if it wasn’t for the rare occurrence of an avant-garde tenth grade English teacher, Donna Bryan, who allowed me to open my mind and ask questions before accepting textbook doctrine, I would have been doomed. I am now enlightened, but my mind still feels disabled. I must retrain myself and constantly remember how insane this ostensibly sane place really is.
And now here I am in a world guided by fear, a world suppressing the uniqueness that lies inside each of us, a world where we can either acquiesce to the inhuman nonsense of corporatism and materialism or insist on change. We are not enlivened by an educational system that clandestinely sets us up for jobs that could be automated, for work that need not be done, for enslavement without fervency for meaningful achievement. We have no choices in life when money is our motivational force. Our motivational force ought to be passion, but this is lost from the moment we step into a system that trains us, rather than inspires us.
We are more than robotic bookshelves, conditioned to blurt out facts we were taught in school. We are all very special, every human on this planet is so special, so aren’t we all deserving of something better, of using our minds for innovation, rather than memorization, for creativity, rather than futile activity, for rumination rather than stagnation? We are not here to get a degree, to then get a job, so we can consume industry-approved placation after placation. There is more, and more still.
The saddest part is that the majority of students don’t have the opportunity to reflect as I did. The majority of students are put through the same brainwashing techniques in order to create a complacent labor force working in the interests of large corporations and secretive government, and worst of all, they are completely unaware of it. I will never be able to turn back these 18 years. I can’t run away to another country with an education system meant to enlighten rather than condition. This part of my life is over, and I want to make sure that no other child will have his or her potential suppressed by powers meant to exploit and control. We are human beings. We are thinkers, dreamers, explorers, artists, writers, engineers. We are anything we want to be – but only if we have an educational system that supports us rather than holds us down. A tree can grow, but only if its roots are given a healthy foundation.
For those of you out there that must continue to sit in desks and yield to the authoritarian ideologies of instructors, do not be disheartened. You still have the opportunity to stand up, ask questions, be critical, and create your own perspective. Demand a setting that will provide you with intellectual capabilities that allow you to expand your mind instead of directing it. Demand that you be interested in class. Demand that the excuse, “You have to learn this for the test” is not good enough for you. Education is an excellent tool, if used properly, but focus more on learning rather than getting good grades.
For those of you that work within the system that I am condemning, I do not mean to insult; I intend to motivate. You have the power to change the incompetencies of this system. I know that you did not become a teacher or administrator to see your students bored. You cannot accept the authority of the governing bodies that tell you what to teach, how to teach it, and that you will be punished if you do not comply. Our potential is at stake.
For those of you that are now leaving this establishment, I say, do not forget what went on in these classrooms. Do not abandon those that come after you. We are the new future and we are not going to let tradition stand. We will break down the walls of corruption to let a garden of knowledge grow throughout America. Once educated properly, we will have the power to do anything, and best of all, we will only use that power for good, for we will be cultivated and wise. We will not accept anything at face value. We will ask questions, and we will demand truth.
So, here I stand. I am not standing here as valedictorian by myself. I was molded by my environment, by all of my peers who are sitting here watching me. I couldn’t have accomplished this without all of you. It was all of you who truly made me the person I am today. It was all of you who were my competition, yet my backbone. In that way, we are all valedictorians.
I am now supposed to say farewell to this institution, those who maintain it, and those who stand with me and behind me, but I hope this farewell is more of a “see you later” when we are all working together to rear a pedagogic movement. But first, let’s go get those pieces of paper that tell us that we’re smart enough to do so!"
http://www.bspcn.com/2010/08/01/the-best-high-school-valedictorian-speech/

Dienstag, 13. Dezember 2011

Mein Traum von der Grünen Schule

"Begleite John Hardy auf einer Tour durch die Grüne Schule, seiner aussergewöhnlichen Schule auf Bali, wo Kinder Bauen und Gärtnern lernen, wo sie schöpferisch sind (und es damit an die höhere Schule schaffen). Das Kernstück des Campus ist das spiralförmige Herz der Schule, vielleicht das weltweit größte freistehende Bamusgebäude."

http://www.ted.com/talks/lang/es/john_hardy_my_green_school_dream.html

Schuld

Sollte Schule nicht helfen, solche Zusammenhänge zu verdeutlichen und Berufswahl so vorzubereiten, dass man weiß, worauf man sich einlässt? Geht das, solange Schule Teil des Systems ist?

http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=rQ7cXnsCh0E

Eine Dokumentation, die in das Innenleben einer hochtalentierten Fondsmanagerin des größten ETF auf Nahrungsmittel und in das Fleisch unserer Zivilisation blickt.

Montag, 12. Dezember 2011

Dein Kerker bist du selbst - Angelus Silesius

Dein Kerker bist du selbst

Die Welt, die hält dich nicht, du selber bist die Welt,
Die dich in dir mit dir so stark gefangen hält.

Angelus Silesius (1624-1677)
via Lyrikmail (Nr. 2505  12.12.2011) http://www.lyrikmail.de

Sonntag, 11. Dezember 2011

Der Wissensdurst

'Der Wissensdurst'

aus: Fliegende Blätter, Bd. 182, 1935 (Nr. 4666-4691), S.272 (G 5442-2 Folio RES::52-53.1870)
via: Adventskalender der Universitätsbibliothek Heidelberg 

Woran erinnert mich das bloss? Stammt aus dem 1935 und für mich sieht der Herr nicht sehr glücklich aus. Nur: Warum ist er nicht glücklich? Weil er nicht so viel lesen und Wissen aneignen kann, wie er möchte? Weil das Wissen in unverdaulichen Portionen vorliegt (so wie ich nie richtig Nitzsche zu lesen vermochte)? Oder wird er gezwungen sich Wissen anzueignen, was er gar nicht möchte? Ich dachte immer, diese Probleme wären von heute, aber anscheinend ist es ein älteres Thema. Nicht erst seit dem Siegeszug des Internets werden wir mit Informationen überflutet. Wer möchte kann, sich ja auch heute dem entziehen - wenn er möchte.

Samstag, 10. Dezember 2011

Charles Leadbeater: Bildungsinnovationen in den Slums

"Charles Leadbeater suchte nach radikal neuen Formen von Bildung -- und fand sie in den Slums von Rio und Kibera, wo einige der ärmsten Kinder der Welt transformativ neue Arten des Lernens vorfinden. Und er sagt, dass diese informelle, aufrüttelnde neue Art von Schule genau das ist, was alle Schulen werden müssen."
http://www.ted.com/talks/lang/es/charles_leadbeater_on_education.html

Donnerstag, 8. Dezember 2011

Jeder kann was er kann

Hochgeladen von am 07.12.2011
Auf die Melodie von "Männer" singt Herbert Grönemeyer gemeinsam mit Ernie und Bert ein Lied darüber, wie gut es ist, dass alle verschieden sind und jeder andere Talente hat.

http://www.youtube.com/watch?v=JneF8oN_-2g&feature=relmfu

Schulzeitverkürzung

Warum müssen Fünftklässler sonntags büffeln statt Freunde zu treffen? Weshalb dieser Unsinn? Henning Sußebach versucht, es seiner Tochter in einem Brief zu erklären.
Liebe Marie,

erinnerst Du Dich noch an den Tag, an dem wir das letzte Mal im Kino waren? An diesen Tierfilm, den Du so gerne sehen wolltest? Wie hieß der bloß noch? Ich glaube, Tiger, Bären und Vulkane, aber sicher bin ich mir nicht. Denn unser Ausflug liegt schon ein paar Monate zurück. Wir sind alle zusammen mit dem Auto in die Stadt gefahren: Mama, Henri, Du und ich. Es war Sonntag – und wir beide saßen mit Karteikarten auf der Rückbank und haben gelernt. Wie viel ist 172? Wie viel 56? Wie viel 28? Auf dem Weg nach Hause dann noch mal: 27 = 128, 182 = 324, 56 = 15625. Und noch mal. Und zur Sicherheit gleich noch mal.
Wir hätten so viel Sinnvolleres tun können auf unserem Heimweg! Den Bildern der Bären nachhängen und Bonbons lutschen zum Beispiel. In dem Zauber verweilen, den jeder kennt, der aus dem Kinodunkel ins Licht tritt – als laufe man erwachend durch einen Traum. Aber noch nicht mal an einem Sonntag ist es mir gelungen, Dich das Kind sein zu lassen, das Du sein solltest mit zehn Jahren.
Bitte mach mir diesen Mist nicht nach, wenn Du erwachsen bist, Marie!
Du merkst schon: Der Brief, den ich Dir schreibe, ist eine verzwickte Angelegenheit. Du wirst ihn genau lesen müssen, damit Du alles verstehst. Und dass Du verstehst, ist wichtig: Denn es geht um Dein Leben und um das, was wir Erwachsenen daraus machen.
Ich werde Dir von Schülern berichten, die krank werden vom dauernden Üben. Von Bildungsexperten, die Euch vorm Lernen warnen. Und von Eltern, die ihre Kinder trotzdem nicht in Ruhe lassen. Von Zeile zu Zeile werde ich wütender werden – weil ich wütend bin auf mich und auf ein Land, das Euch alle zu Strebern macht.
Deshalb habe ich meinen Brief auch nicht auf Deinen Platz gelegt, dort am Küchentisch, an dem wir morgens Einkaufszettel schreiben und abends Vokabeln lernen: Wie lautet das englische Wort für Gummistiefel, Stiefvater, Drachenfestival, Schiffsausguck, Küstenstadt, Karaoke-Gerät, Schatzkarte, Gartenschuppen, Geschmacksrichtung Hühnchen? Ich schreibe diesen Brief in der Zeitung, weil es noch 275.000 andere Fünftklässler in Deutschland gibt, die ein Gymnasium besuchen wie Du. Die gerade wie Du für die letzten Arbeiten vor den Zeugnissen büffeln. Und die wie Du trotzdem nur mit halbem Ohr diese rätselhaften Wörter hören: »Turbo-Abi«, »Schulzeitverkürzung«, »G8«.
In diesem Brief, Marie, möchte ich Dir und Tausenden anderer Schulkinder etwas verraten. Es gibt da ein paar Geheimnisse, von denen Ihr nichts ahnt, denn jedes Kind nimmt die Welt ja erst einmal als gegeben hin.
Stopp, das war zu kompliziert! Ich meine: Ein Kind hält sein Leben, so wie es ist, für ganz normal. Woher soll es wissen, dass alles auch anders sein könnte? Oder wie die Erwachsenen gelebt haben, als die noch klein waren? Dieses Hinnehmen ist schön, weil Ihr nicht so viel grübeln müsst: »Was wäre, wenn...?« Aber es macht Euch auch da fügsam, wo Auflehnung angebracht wäre.
Du hast jeden Tag sieben Stunden Schule und weißt nicht, dass ich als Kind niemals täglich sieben Stunden hatte, in keinem einzigen Schuljahr. Dass ich nachmittags allenfalls vor dem Abitur so viel gelernt habe wie Du jetzt in der fünften Klasse, und niemals auf dem Weg ins Kino. Und dass ich heute manchmal so tue, als müsste ich noch arbeiten, wenn ich abends nach Hause komme und sehe, wie Du über Grammatik-Arbeitsblättern sitzt: Kreuze die richtigen Aussagen an! Der Genus ist das grammatische Geschlecht eines Nomens / Nomen können im Singular und im Plural auftreten. Dies nennt man den Kasus des Nomens / Der Numerus ist der Fall, in dem ein Nomen steht / Man kann Präpositionen steigern / Der bestimmte Artikel gibt im Nominativ Singular das grammatische Geschlecht eines Nomens an / Der Imperativ gehört zu den finiten Verbformen / Präsens wird benutzt, wenn man über etwas sagen kann: Es war gestern so, ist heute so und wird auch morgen so sein / Das Partizip I gehört zu den infiniten Verbformen / Verben kann man deklinieren. Ich hefte dann Rechnungen ab, schreibe EMails und sortiere Zeugs. Ich will nicht freihaben, solange Du noch arbeitest. Ist das nicht verrückt? Irgendjemand hat die Welt verdreht! Nur wer?
Weißt Du: Das alles ist nicht einfach so passiert. Die freie Zeit ist nicht einfach so verschwunden. Wir Erwachsenen haben Euch ein Jahr Eurer Kindheit gestohlen. Aus Eile und Angst.
Wie soll ich Dir das erklären?
Ich versuche es mal so: Unser Leben ist voller Reichtum und Mangel zugleich. Es gibt so viel Essen, dass wir die Reste wegwerfen. Nichts ist richtig knapp, außer manchmal Klopapier. Doch was uns fehlt, ist Zeit. Jedenfalls glauben wir das.
Wir Erwachsenen schauen selten im Kühlschrank nach, ob noch Käse oder Wurst da ist – aber wir gucken ständig auf die Uhr. Wir klagen dauernd über »Stress« – doch wenn wir nichts zu tun haben, fühlen wir uns nutzlos. Wir sind genervt, wenn der Chef uns auch am Wochenende anruft – aber eifersüchtig, wenn ein anderer Kollege mehr Anrufe bekommt. Unsere Computer sind voller Updates und Reminder, unsere Köpfe können Wichtiges von Drängendem nicht mehr unterscheiden – und den Sonntag nicht vom Montag. Das ist die Hast, die ich meine. Deine Großeltern haben seit 40 Jahren dieselbe Telefonnummer, wir haben unsere seit Deiner Geburt zweimal gewechselt – und noch zwei Handynummern dazugekriegt, damit wir immer erreichbar sind. Ein Brief war früher Tage unterwegs, eine Mail ist heute augenblicklich da. Die ganze Welt ist in einen Wettlauf geraten, den wir Erwachsenen »Globalisierung« nennen: Wer näht die billigsten T-Shirts? Wer baut die schnellsten Autos? Wer erfindet zuerst neue Telefone und Computer, die uns noch rasanter updaten und reminden können?
Irgendwann haben wir Deutschen gemerkt, dass die Kinder in anderen Ländern noch schneller lernen als unsere. Dass sie in China früher damit anfangen und in Amerika früher damit aufhören. Und gleich arbeiten. Da hat uns die Angst gepackt. Wir haben uns nicht gefragt, ob es klug ist, zu lernen wie die Chinesen. Wir haben nur gedacht: Bevor die uns einholen, beeilen wir uns auch.
Und noch etwas kam hinzu. Etwas, das mit Deutschland zu tun hat: das sogenannte Demografieproblem. Es gibt zu wenige Kinder und zu viele Alte. Aber das siehst Du ja, weil zu unseren Familienfesten mehr Onkel und Tanten kommen als Cousins und Cousinen. Ich hatte lange gedacht, dieses Demografieproblem werde Dein Leben als Erwachsene prägen. Jetzt bestimmt es schon Deine Kindheit. Denn wer früher die Schule verlässt, kann länger arbeiten. Und wer länger arbeitet, kann uns, wenn wir alt und müde sind, länger Geld für die Rente geben.
Schon 1993 (als uns die Chinesen noch egal waren und es keine Schulvergleiche gab) passierte es: Da empfahlen die Finanzminister aller deutschen Bundesländer, Euch ein Schuljahr wegzunehmen. Nicht die Kultusminister, die sich um die Schulen kümmern! Sondern die Politiker, die aufs Geld aufpassen, die Zahlen statt Menschen sehen und deshalb wissen: Jeder Gymnasiast kostet 5000 Euro im Jahr. Geld für die Lehrer, den Hausmeister, die Tafeln und Turnmatten. Allein an Dir und Deinen 27 Klassenkameraden konnten sie also 140.000 Euro sparen.
Deshalb wurde Euch ein Jahr aus der Schulzeit gestrichen – aus dem Lernstoff aber strich man nur wenig. Ihr sollt auf dem Gymnasium in acht Jahren begreifen, wofür Eure Eltern noch neun Jahre Zeit hatten. Unseren Mangel an Zeit – wir haben ihn zu Eurem gemacht.
Deshalb hast Du jetzt eine 40-Stunden-Woche voller Unterricht und Hausaufgaben. Deshalb hast Du vor wenigen Monaten das Gitarrespielen aufgegeben. Deshalb telefonierst Du die halbe Klassenliste rauf und runter, bis Du jemanden zum Spielen findest. Alle sind beschäftigt.
So kommt ein kleiner Raub an Freizeit und Freiheit zum anderen, jeder für sich kaum der Rede wert. Aber wenn man alle zusammenrechnet, in jeder Familie zwischen Nordsee und Alpen, kommt eine große Statistik der Überforderung dabei heraus: Ein Viertel aller Gymnasiastinnen klagt regelmäßig über Kopfweh, das hat die Krankenkasse DAK herausgefunden. Kinder sagen ihre Teilnahme an Geburtstagsfeiern ab. Sie treten aus Sportvereinen und Chören aus. In Schleswig-Holstein, unserem Bundesland, sind die Teilnehmerzahlen bei »Jugend forscht« eingebrochen, dabei wollte Deutschland doch möglichst schnell möglichst viele möglichst junge Ingenieure. In Baden-Württemberg hat sich die Zahl der Fünft- und Sechstklässler, die nachmittags in Nachhilfe-Instituten nachsitzen, fast verdreifacht. Sie haben plötzlich das Gefühl, nicht gut genug zu sein – obwohl sie gar nicht schlechter geworden sind! Drei Milliarden Euro investieren nervöse Eltern jedes Jahr in die Nachhilfe, 20 Prozent von ihnen mehr als 200 Euro im Monat. Das sind 2400 Euro im Jahr. Fast so viel, wie die Finanzminister an Euch gespart haben. Das macht den Reichen nichts aus, aber den Armen umso mehr. In Internetforen werden »Pillen fürs Abi« empfohlen: Ampakin – eigentlich für alte Leute mit Alzheimer – für mehr Gehirnleistung. Fluoxetin – eigentlich gegen Depressionen – für mehr Leistungsbereitschaft. Metroprolol – eigentlich gegen Bluthochdruck – für weniger Prüfungsangst. Und an Deinem Gymnasium hat eine »Wirtschaftspsychologin« uns Eltern vor einigen Tagen erklärt, woran wir bei Euch einen Burn-out erkennen. Das bedeutet, dass manche Kinder jetzt schon ausgebrannt sind – wie überarbeitete Erwachsene.
Ich habe einen Professor für Soziologie angerufen. Soziologen erforschen, warum die Gesellschaft so ist, wie sie ist. Warum wir so leben, wie wir leben. Der Professor heißt Hartmut Rosa und ist 45 Jahre alt, hat aber noch nicht vergessen, wie es ist, ein Kind zu sein. Deshalb hat er etwas geschafft, was Professoren selten schaffen: Er hat ein Buch geschrieben, das auch normale Menschen lesen können. Es heißt Beschleunigung und handelt von unserer täglichen Raserei.
Hartmut Rosa sagt, er macht sich Sorgen, weil Eure Kindheit so »vernutzt« ist. Dass alles einen Zweck hat, einen Sinn erfüllen muss. Dass wir Euch sogar dann, wenn wir Euch Gutes tun wollen, bloß wieder auf ein Leben als Erwachsene vorbereiten. »Es ist wichtig, körperlich fit zu sein und musikalisch, gesund zu essen, Freunde zu haben – und sich entspannen zu können!«, sagt er. Hartmut Rosa will, dass wir Erwachsenen Euch endlich in Ruhe lassen. Ein Kind soll im Jetzt leben und nicht dauernd ans Morgen denken. Ein Kind soll ganz bei sich sein dürfen, nicht für andere da sein müssen. Ein Kind soll die Muße haben, mit etwas zusammen zu wachsen. Das kann ein Baum sein, eine Straße, ein Fußballplatz, ein Tier.
Vor allem fordert Hartmut Rosa: Ihr Kinder müsst Euch wieder langweilen dürfen. Denn irgendwann wird aus Langeweile Bewegung, ein Stromern und Streunen, das ziellos ist und doch an tausend Orte führt. Den schönsten Augenblicken der Kindheit geht die Langeweile voraus. Wer Langeweile hat, kommt auf die verrücktesten Ideen. »Die allermeisten Menschen würden im Rückblick doch sagen: Die endlos langen Sonntagnachmittage, an denen eigentlich nichts passierte, waren die Momente, in denen ich meine Seele spürte. In denen ich lernte, mich selber zu ertragen.« So sagt es Hartmut Rosa.
Ganz sicher ist der Rückblick in die eigene Kindheit weichgezeichnet von Gefühlsduselei. Aber ich kann nur von meiner Kindheit erzählen: Ich bin groß geworden in einer Welt, in der es nicht pausenlos piepte und ploppte, niemand twitterte und livetickerte, in der Computer dick und braun waren wie Brotkästen und nur bei pickligen Stubenhockern in verdunkelten Kinderzimmern standen. Wenn ich mit jemandem spielen wollte, habe ich keine Klassenliste abtelefoniert, sondern beim Nachbarn geklingelt und gefragt: »Kommt der Christian raus?«
Als Fünftklässler habe ich endlose Nachmittage in der festen Überzeugung verbracht, der berühmte Fußballspieler Karl-Heinz Rummenigge zu sein – auch wenn ich meinen Lederball nur gegen Garagentore gedroschen habe. Mal allein, mal mit Freunden, mal mit fremden Jungen aus fremden Vierteln, rauen Burschen mit rauer Sprache, Hauptschülern, die der Zufall in meine Straße geführt hatte. Ich habe mich auf aufregende Weise gelangweilt! Jeden Schritt, jeden Schuss kommentierte eine innere Reporterstimme: »Was für eine Körpertäuschung! Mit diesem Volleykracher sichert sich Kalle Rummenigge die Torjägerkanone! Inter Mailand hat hundert Millionen für ihn geboten!« Später war ich Boris Becker, Tennisstar, der im Finale gegen eine bis dahin unbesiegte Brandmauer antrat. Ich ließ vor meinem Aufschlag den Ball auftitschen wie er. Ich leckte meine Lippen wie er. Ich schälte sogar meine Bananen wie er. »6:1, 6:0, 6:1!«, brüllte die innere Stimme jetzt, »anders als der falsche Boris Becker gewinnt der echte zum dritten Mal in Folge Wimbledon! Und jetzt überreicht ihm die Herzogin von Kent auch schon den goldenen Pokal!«
Heute klingt das alles bescheuert, oder? Aber als Kind habe ich mir Baugenehmigungen für Luftschlösser erteilt. Wenn ich an früher denke, schlendere ich als Fußballgott und Tenniskönig durch gleißend helle Nachmittage. Ich habe immer Zeit. Und es ist immer Sommer. Ein größeres Kompliment kann die Erinnerung der Kindheit nicht machen.
Wenn es regnete? Habe ich den Tropfenrennen am Fenster zugesehen oder die Holzvertäfelung neben meinem Bett angestarrt. So lange, bis sich aus der Maserung Berge erhoben und sich die Astlöcher in Vulkankrater verwandelten. Kennst Du das auch?
Ich habe mal gerechnet: Du wirst in den Schulklassen fünf bis zwölf 1200 Stunden mehr Schule haben, als ich es hatte. 1200 Schulstunden! 1200-mal 45 Minuten. Das sind 600 Fußballspiele. Das ist die Zeit, in der ich Karl-Heinz Rummenigge und Boris Becker war. In der ich zum Golfplatz radelte und mit einem flinken Griff durch den Zaun eine Handvoll Bälle klaute, weil ich das für rebellisch hielt. In der ich mir ein Segelboot aus Holz baute, das dann leider auseinanderfiel. Erfahrung entsteht nur beim Gehen von Umwegen, heißt es. Ich hatte Zeit, um Zeit zu verschwenden! Mich zu irren. Fehler zu machen. In eine Sackgasse zu laufen und wieder zurückzugehen.
Mach auch mal Fehler, Marie! Sachen, die wir Eltern für falsch halten. Du bist ja schon vernünftiger als wir: Als ich Dich neulich gefragt habe, ob ich mittwochs mal schwänzen soll, den Kollegen bei der Zeitung sagen, ich würde zu Hause arbeiten, in Wahrheit aber mit Dir schwimmen gehen, hast Du geantwortet: »Ich habe keine Zeit. Ich kann nur an Wochenenden.«
An Deinen Lehrern liegt das kaum. Deine Schule erscheint mir als eine der besseren in einem schlechten System – fast wie das Richtige im Falschen. Du hast zwei Klassenlehrer, nicht nur einen. Die beiden strahlen eine Gelassenheit aus wie Teetrinker in der Espresso-Gesellschaft. Du hast bei ihnen zunächst das Lernen gelernt: Ich beginne meine Hausaufgaben mit etwas Einfachem und Interessantem. Ich lege Pausen bei meinen Hausaufgaben ein. Ihr bekommt Übungsarbeiten mit nach Hause, damit Ihr wisst, was Ihr Euch einprägen müsst (und was nicht...). Ihr bewertet Euch mit Selbstkontrollbögen: Was kann ich schon? Was noch nicht? Auf den Elternabenden fragen Eure Lehrer uns: »Sollen wir weniger Hausaufgaben aufgeben, damit den Kindern mehr Zeit bleibt? Oder mehr, damit sie den Stoff besser verstehen?«
Auf dem anderen Gymnasium in unserer kleinen Stadt hagelt es Fünfen und Sechsen, und Kinder geben halb leere Arbeitsblätter ab.
 
An deiner Schule haben die Lehrer hier und da die Lehrpläne entrümpelt. Und sie haben das Fach »Science« erfunden: Biologie, Physik und Chemie in einem. Wenn Ihr über Vögel sprecht (Biologie!), lernt Ihr auch, wie an ihren Flügeln Auftrieb entsteht (Physik!). Wenn Ihr über die Lunge und das Atmen sprecht (Biologie!), redet Ihr gleich über Sauerstoff und Stickstoff (Chemie!). Es gibt Lehrer anderer Gymnasien, die bei Euch lernen, wie man Science unterrichtet. Es gibt Verlage, die ihre Schulbücher den Ideen Deiner Lehrer anpassen. Ihr habt in Klasse fünf jeweils sechs Stunden Englisch, Mathe und Deutsch pro Woche, damit Ihr in Klasse sechs nur mehr vier braucht – denn dann kommt ja noch Französisch oder Latein hinzu. Eure Klassenlehrerin hat sich drei statt zwei Stunden Musik erkämpft, in denen sie mit Euch singt und lacht. Deine Lehrer nennen das »Stunden zum Ausatmen«. Auch deshalb also habt Ihr so viel Unterricht.
Warum sollten Lehrer Euch auch von der Schule fernhalten? Uns Eltern aber hat der Soziologe Hartmut Rosa Hausaufgaben aufgegeben: »Es muss Nachmittage geben, an denen nichts im Terminkalender steht. Oder an denen NICHTS! im Terminkalender steht.«
Ich hätte zwar lieber mit den Finanzministern, diesen Sparschweinen, gestritten, als schon wieder in Dein Leben einzugreifen, Marie – aber als Du das Gitarrespielen aufgegeben hast, war das nicht nur Dein Wunsch, sondern auch der von uns Eltern. Damit Du weiter Basketball spielst. Denn da bist Du mal keine Einzelkämpferin.
Jetzt hängt Deine Gitarre an einem Haken neben Deinem Schreibtisch, und ich frage mich: Wirst Du uns später einmal übel nehmen, dass Du nur zuhören kannst, wenn andere Musik machen?
Ist es Zufall, dass Dein Freundeskreis nur noch aus Klassenkameradinnen besteht? Oder liegt es daran, dass Ihr im selben Rhythmus lernt und lebt?
Wie viel Platz wird Dir Dein Alltag für Liebeskummer lassen? Für die Pubertät? Für den Aufstand?
Wird Dir jemals ein Lehrer erzählen, dass das Wort Schule aus dem Griechischen stammt und eigentlich »freie Zeit« bedeutet?
Warum wird das Buch einer verkniffenen chinesisch-amerikanischen Mutter, die über das Drillen ihrer Töchter schreibt, in Deutschland ein Bestseller? Wieso beschäftigen wir uns ernsthaft mit dieser Frau, die ihren Töchtern droht, die Stofftiere zu verbrennen, wenn sie faul sind?
Woher kommt unsere Globalisierungsangst? Die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland ist viel geringer als in Frankreich, Italien, Spanien. Unser Land ist klein, aber unsere Wirtschaft ist die viertgrößte der Welt. Wir verkaufen Autos, Windräder und Medikamente überallhin. Und sind all die Erfinder, Konzernchefs und Gewerkschaftsführer nicht dreizehn Jahre aufs Gymnasium gegangen?
In wie vielen Familien kreisen die Gespräche nur noch um Schule? Hast Du die Vokabeln drauf? Bist Du fit für die Arbeit? Schreibe eine möglichst kleine Zahl auf, indem Du jedes der folgenden römischen Zahlzeichen genau einmal verwendest: M, C, I, X, V.
Nicht dass Du mich falsch verstehst, Marie: Die Schule ist nicht fürs Kinderglück verantwortlich. Dafür sind wir Eltern zuständig. Und Schüler müssen nun mal lernen. Aber sie müssen auch Zeit haben für eigene Entdeckungen.
Wir üben jetzt oft gemeinsam. Manchmal gibt es Krach, manchmal erleben wir innige Momente: dieses wärmende Glück, wenn wir beide wieder etwas begriffen haben, wenn die Erkenntnis durchbricht wie die Sonne nach drei Tagen Regen! Du hast gelernt, wie die Ägypter ihre Pyramiden bauten. Warum ein Londoner Vorort mit Namen Greenwich weltbekannt ist. Dass es am Horizont einen Fluchtpunkt gibt, auf den alle Linien zulaufen. Jede Schulstunde kann ein Geschenk sein. Und alles zusammen fügt sich zu einem Schatz. Kostet es zu viel Kraft, zu viel Zeit, zu viel Leben, ihn zu heben?
Euer Schuldirektor sagt: Nein. Das sei nur die übliche Sorge der Eltern, deren Kinder von der Grundschule aufs Gymnasium wechseln. Das größte Problem der Schulzeitverkürzung sei »mangelnde Akzeptanz«. Also Leute wie ich!
Er sagt das aus einer privilegierten Position heraus, so wie ich diesen Brief aus einer bevorzugten Lebenslage schreibe: Dein Direktor leitet ein Vorstadtgymnasium in einer besseren Gegend. In Eurer Schulkantine servieren »Kochmütter« das Mittagessen. Es gibt aber auch Frauen, die bis abends arbeiten möchten (Du später vielleicht auch!). Alleinerziehende Eltern, die das müssen. Und Väter und Mütter, die keine Lust haben, mit ihren Kindern zu lernen, die gibt es auch.
Was wird aus diesen Schülern?
»Die Übungsphasen, die dazu da sind, Stoff zu vertiefen, sind nach Hause verlagert worden. Kinder, die niemanden haben, der ihnen bei den Hausaufgaben hilft, kommen schlecht weg«, sagt Heinz-Peter Meidinger. Er ist Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Das ist ein Zusammenschluss von Lehrern, die an Gymnasien arbeiten.
Ich habe im schleswig-holsteinischen Bildungsministerium nachgefragt: Der Anteil der Schüler, die nach der sechsten Klasse die Gymnasien verlassen müssen, hat sich verdreifacht. In Bayern macht die erste G-8-Generation gerade Abitur – seit der fünften Klasse sind dort 31 Prozent aller Schüler auf der Strecke geblieben. Bei G9 waren es 22 Prozent. Diese Kinder wurden »abgeschult«, so nennt man das in den Statistiken.
Es klingt fast weltfremd, wenn die Kirche gegen dieses eiskalte Wort protestiert und daran erinnert, dass »jeder Mensch mit reichen und vielseitigen Anlagen beschenkt« sei. Bildung müsse auch die »Kräfte der Fantasie, der Liebe, des seelischen Erlebens und des moralischen Wertens« wecken.
Der Pädagoge Andreas Gruschka sagt: »Es kommt nicht mehr Saft aus einer Zitrone, wenn man mehr presst.« Gruschka selber ist zweimal sitzen geblieben und trotzdem Professor geworden. An der Goethe-Universität in Frankfurt am Main erforscht er, wie Lehrer unterrichten und wie Kinder lernen. Er meint: Ihr paukt zwar viel, aber Ihr habt nicht viel davon. Euch fehlt die Zeit, wirklich zu kapieren, was die Lehrer Euch erzählen. Und darüber eine eigene Meinung zu bilden. Er sagt: »Die Kinder heute lernen Organisation und Präsentation.« Referate, Wochenpläne – er hält das alles für eine Vorbereitung auf ein kritikloses Büroleben, in dem der Chef in der Tür steht und sagt: »Frau Müller, stellen Sie mir bis Freitag bitte alles über die indischen Märkte zusammen!«
G8 habe »für 25 bis 30 Prozent der Gymnasiasten mehr gebracht – für die anderen wäre G9 vorteilhafter gewesen«, sagt der Münchner Bildungsforscher Kurt Heller, ein Pädagoge und Psychologe. Das ist besonders interessant, weil niemand in Deutschland so gründlich zu dem Thema geforscht hat wie er: In den neunziger Jahren hat Heller in ein paar baden-württembergischen Gymnasien G8 ausprobiert – mit durchschnittlich 16 Schülern pro Klasse. Am Ende empfahl er: Es sollte G8-Schulen und G9-Schulen geben. Aber dann, sagt Heller heute, habe die Politik überall das Turbo-Abi eingeführt. Der Professor hat sehr frustriert geklungen, als er mir gesagt hat: »Ist leider so gelaufen.«
Philologen und Psychologen, Pädagogen und Prozente – wie schnell wird der Streit um Eure Schulzeit abstrakt und entfernt sich wieder aus der Wahrnehmung der Kinder. Und weg von tausend kleinen Lebenswirklichkeiten.
Es gibt einen Arzt in Bremen, der heißt Stefan Trapp und hat vor drei Jahren einen Brief an die Bildungssenatorin seiner Stadt geschrieben. Darin steht: »Als niedergelassener Kinder- und Jugendarzt wie auch als betroffener Vater erlebe ich die Folgen der Verkürzung des Gymnasiums auf acht Jahre täglich in Praxis und Familie.« Seine Patienten zeigten Symptome, die sonst bei gestressten Managern auftreten. Kopfschmerzen und Erschöpfungszustände, auch Traurigkeit und Angst. Die Senatorin hat ihm bis heute nicht geantwortet. Aber weil Trapp in seiner Stadt ein bekannter Mann ist und den Bremer Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte leitet, hat eine Zeitung seinen Brief abgedruckt.
Trapp ist noch jung. Er trinkt Cola und isst gerne Kuchen, obwohl das nicht gesund ist. Er ist ein fröhlicher Arzt, solange er nicht von den müden Mädchen und Jungen in seinem Sprechzimmer erzählt. Er sagt: »Früher hatten Kinder Kopfschmerzen, weil sie eine Brille brauchten. Heute, weil sie beim Gedanken an die Schule mittlerweile die Gefahr des Scheiterns mitdenken.« Er behandelt Schüler mit Schlafstörungen und Depressionen. Das sind Krankheiten, die früher bloß Erwachsene bekamen, die richtig Pech hatten. »Die Rolle des Gymnasiasten als Sorgenkind ist neu«, sagt Trapp. Gymnasiasten sind seltener dick, essen meist gesünder und prügeln sich kaum. »Aber die Schulzeit ähnelt immer mehr einer anspruchsvollen Bürotätigkeit – kein Wunder, dass sich auch die Krankheitsbilder ähneln.« Wie sollen Jugendliche mit Anforderungen fertigwerden, an denen Erwachsene scheitern? Zumal sie dauernd beobachtet und benotet werden. Alle sind unzufrieden: Schüler, Eltern und Lehrer. Alle haben Stress. Und in diesem Gezerre sind die Kinder die Schwächsten.
Warum schützen wir die Schwächsten nicht mehr? Auch nicht die Aufmüpfigen, die Sperrigen, die unser Tempo bremsen? Ich sage Dir, Marie: weil wir Erwachsenen die wahren Streber sind! Weil wir zu feige sind, mal richtig wütend, richtig sperrig, richtig uncool zu sein.
Vor einigen Monaten hat der neue Bildungsminister in unserem Bundesland alle Gymnasien abstimmen lassen, ob sie das neunte Schuljahr zurückhaben wollen. Die Lehrer Deiner Schule haben sich entschieden, bei G8 zu bleiben. Einstimmig, sagt der Direktor. Ich kann mir vorstellen, dass viele aus Stolz auf ihre eigenen Ideen so entschieden haben. Manche aus Erschöpfung nach all den Konferenzen. Andere, weil sie finden, dass nicht nach jeder Landtagswahl alles geändert werden sollte, dass zu viele Rollen rückwärts schwindlig machen. Und einige vielleicht auch aus Respekt vor dem Direktor.
Wochenlang habe ich versucht, mit der Schulpsychologin unseres Landkreises zu reden. Aber sie hat mir in kurzen Mails geantwortet, für ein ausführliches Gespräch habe sie keine Zeit – und für ein kurzes Telefonat sei das Thema zu wichtig. Auch das meine ich mit Feigheit, Marie.
In Bremen fragt der Kinderarzt Stefan Trapp die Schüler in seiner Praxis: Warum kommst du zu mir? Was machst du in deiner Freizeit? Was tust du gern? Was würdest du gern tun? Wann fühlst du dich wohl? Wenn die Antwort lautet: Ich war das letzte Mal in den Ferien froh, dann ist das ein Problem. Auch für ihn. Ein Arzt will heilen, nicht nur herumdoktern. Mit Scharlach oder Läusen ist Trapp immer fertiggeworden, aber wie kann er einem mutlosen Kind helfen? »Wenn jemand krank wird durch die Schule, ist eine Therapie, eine ursächliche Therapie, nicht möglich«, sagt Trapp. Das bedeutet: Wer sich einen Arm gebrochen hat, bekommt einen Gips und braucht Geduld. Wer eine Pferdeallergie hat, kann mit dem Reiten aufhören. Aber wen das Lernen krank macht, der kann nicht die Schule abschaffen.
Unsere Gesellschaft ist dringend auf jedes einzelne Kind angewiesen – aber es wird so getan, als ginge es immer nur um die Stärksten und Schlausten. Als könnten wir auf alle anderen Kinder verzichten.
Weißt Du, was passiert ist, als eine Mutter eine Lehrerin Eurer Schule gefragt hat, ob sie nicht zu schnell zu viel von Euch verlangt? Da hat die – eine junge Frau – kühl geantwortet: »Sicher ist dieses Lernen nicht für alle geeignet.« Und Klassenarbeiten seien dazu da, »zu überprüfen, ob die Kinder auf dem Gymnasium Schritt halten können«.
Weißt Du, was das bedeutet, Marie?
Ich werde es Dir erklären: Es bedeutet, Klassenarbeiten sollen nicht nur helfen, herauszufinden, welcher Schüler wo Schwächen hat – um dafür zu sorgen, dass es beim nächsten Mal besser klappt. Nein: Sie sollen auch helfen, die Schwächsten zu finden und auszusortieren. Deine Lehrerin hat nicht gesagt, es gehe ihr darum, alles zu tun, »damit« Kinder Schritt halten können. Sondern zu prüfen, »ob«.
Meine Lehrer hätten so etwas nie gesagt, selbst wenn sie heimlich so dachten. Du wirst das verrückt finden, Marie: Als vor 25 Jahren in der Ukraine ein Atomkraftwerk explodierte, schickten meine Lehrer uns zum Demonstrieren! Als vor 20 Jahren in Kuwait ein Krieg losbrach, ließ mein Mathelehrer uns aus Protest nicht mit Äpfeln und Birnen rechnen, sondern in der Recheneinheit »Leichensäcke«. Das hört sich ziemlich grotesk an, was? Einige meiner Lehrer sprachen im Unterricht voller Pathos, wie ein Pastor in der Sonntagspredigt. Aber es ging ihnen darum, uns mitzureißen. Uns zu gewinnen. Wenn auch nur für ihre eigenen Träume von einer besseren Welt.
Und jetzt? Spricht diese Lehrerin wie die Jurypräsidentin einer gigantischen Castingshow – in der nicht Werbeverträge vergeben werden, sondern Lebenschancen. Und zwar nur an die Passgenauen.
Das macht mich wütend. Sie hat G8 zwar nicht erfunden – aber sie hat sich damit abgefunden. Mindestens das. Andererseits gibt sie nur den Druck weiter, den andere aufgebaut haben. Und zu diesen anderen gehöre – ich. Die Versuchung, mit Dir auf die Jagd nach immer besseren Noten zu gehen, ist so groß. Wie schnell passiert es, dass ich eine gute Klassenarbeit nach den wenigen Fehlern ausspähe, nicht nach den korrekt gelösten Aufgaben. Es gibt Eltern in unserer Stadt, die ihren Kindern das Taschengeld kürzen, wenn die keine Eins heimbringen. Die mit all den fleißigen Chinesenkindern drohen, von denen wir noch gar nicht wissen, ob die ganze Paukerei sie wirklich schlau macht oder bieder.
Wenn Du Geburtstag feierst und Deine Klassenkameradinnen kommen, freue ich mich über all die wohlerzogenen Kinder, die den ganzen Tag keine Mühe machen – aber ich wundere mich auch. Wo sind die Querköpfe, die Nervensägen, die Rotznasen? Wer hat sie aussortiert?
Vor fünf Jahren hat ein Kollege in dieser Zeitung geschrieben, er finde die verkürzte Schulzeit gut, denn es sei noch »Luft im System«. Schon möglich. Aber ist Luft schlecht? Ist sie nicht zum Atmen da? Und lernt, wer atmen darf, nicht sogar mehr? Oder jedenfalls lieber?
Das Gerede von der »Luft im System« ist gefährlich, Marie. Man kann so lange sagen, es sei »Luft im System«, bis keine mehr da ist.
Wir haben Euer Leben den Regeln der Wirtschaft unterworfen: In einem Motor kann Luft schaden, in einem Windkanal ist Druck sinnvoll. Aber wer hat uns eingeredet, dass ein beschleunigtes Leben ein gelingendes Leben ist? Wenn ich sehe, wie Manager auf Flughäfen und in ICE-Abteilen ihre iPhones und BlackBerrys anstarren, auf eingehende Mails so angewiesen wie Junkies auf Rauschgift, und wenn ich höre, wie sie endlos von »Quartalszahlen«, »Jahresabschlüssen« und der Marktforschung faseln, die sie nur noch »Mafo« nennen, wie sie von Hamburg nach München fahren, ohne dabei auch nur einen einzigen eigenen Gedanken zu äußern – dann glaube ich, wir sollten uns kein Beispiel an ihnen nehmen.
Es wäre schön, wenn Ihr später nicht nur Zahlen lesen könntet. Sondern auch die Menschen hinter den Zahlen erkennen würdet. Wenn Bildung hieße: mit Wissen vernünftig umgehen. Der Schriftsteller Erich Kästner, von dem Du Das doppelte Lottchen kennst, hat das viel schöner gesagt: »Der Mensch soll lernen, nur die Ochsen büffeln.«
Wir haben Eure Lebensläufe begradigt wie die Flüsse. Wo wir noch mäandern konnten, uns treiben ließen, rauscht Ihr geradeaus durch. Es wäre schade, wenn dabei alles an Euch glatt geschliffen würde, wenn von Eurer Persönlichkeit nicht mehr viel übrig bliebe. Das hört sich sehr hässlich an, Marie, aber: Ich habe nicht nur Mitleid mit Euch als Kindern. Ich habe auch ein bisschen Angst vor Euch als Erwachsenen.
 
Wenn Du Abitur machst, wirst Du 17 sein. Mit 17 lassen wir Euch nicht alleine Auto fahren und keine Mietverträge unterschreiben. Wenn Du Pech hast, musst Du Dich für ein Leben als Lehrerin, als Mathematikerin, als Managerin entscheiden, bevor Du überhaupt weißt, was Du kannst, was Du willst, wer Du bist. Falls Du dann ein eiliges Bachelorstudium durchhastest, wirst Du mit 20 die Universität verlassen. Worauf haben wir uns da nur eingelassen? Wollen wir, dass unsere Enkel von 21-jährigen Lehrern unterrichtet werden, die kaum mehr von der Welt gesehen haben als Legehennen? Wollen wir uns von 22-jährigen Bankern mit Geradeausbiografien betreuen lassen? Uns von 23-jährigen Unternehmensberatern begutachten lassen?
Wenn Dich Deine Lehrer, unsere Nachbarn oder die Eltern Deiner Freundinnen jetzt fragen, warum Dein Vater so aufgebracht ist, dann musst Du wissen: Es liegt nicht an Dir. Wer glaubt, ich schreibe hier gegen schlechte Noten an, der hat nichts begriffen. Deine Zensuren sind gut. Ich bin zornig, weil wir Eure Kinderzimmer zu Büros gemacht haben, Eure Schreibtische zu Werkbänken, Eure Köpfe zu Lagerhallen.
Wenn sie Dir sagen, es ist doch nur das eine Jahr, dann antworte ihnen, es geht um Millionen beschleunigter Leben. Und wenn sie Dich fragen: »Acht oder neun Jahre, ist das nicht einerlei?«, dann sag ihnen: Was wäre los, wenn die Lokführer plötzlich 15 Prozent mehr arbeiten müssten? Dieses Land stünde still, über Wochen. Die Tagesschau würde Abend für Abend mit Streikmeldungen beginnen. Es gäbe Demonstrationen, auf denen wütende Männer rote Fahnen schwenken. Es gäbe aufgeregte Talkrunden im Fernsehen, in denen die Erwachsenen »Ausbeutung« und »Raubtierkapitalismus« brüllten.
Natürlich frage ich mich: Ist eine Sache nicht nur dann schlimm, wenn Du, Marie, sie selber schlimm findest? Habe ich Dich mit diesem Brief zum Faulenzen aufgefordert, Dir Ausreden und Ausflüchte in den Mund gelegt? Habe ich Dich verwirrt? Dir überflüssige Sorgen gemacht? Ich hoffe fast, dass Du diesen Brief inzwischen zur Seite geschoben hast und irgendwo Waveboard fährst, weil Du das Geschreibsel hier dröge findest und sowieso Quatsch ist, was von den Eltern so kommt.
Aber Du sollst ruhig wissen, warum wir auf dem Weg ins Kino 17², 56 und 28 gelernt haben.
Du sollst wissen, warum ich Dich manchmal dressiere wie ein Dompteur sein Zirkuspferd – und mir dann wieder auf die Lippen beiße, statt nach der Schule zu fragen.
Du sollst wissen, dass Du mehr bist als die Summe deiner Leistungen.
Du sollst wissen, warum es manche Deiner Freundinnen nicht schaffen werden, warum ihre Stühle irgendwann leer bleiben werden.
Du sollst wissen, dass Depression keine Kinderkrankheit ist.
Du sollst wissen, dass die Schulzeit mehr sein sollte als ein Trainingslager fürs Berufsleben.
Du sollst wissen, dass die Gesellschaft an denen wächst, die sie infrage stellen.
Und Du sollst wissen, dass ich Dir das gestohlene Jahr zurückgeben möchte. An jedem Tag, an jedem Wochenende – und nach dem Abitur. Am besten kein Auslandsstudium. Kein Sommerseminar. Sondern einfach eine Reise ohne Weg und ohne Ziel. Denn wenn Du Deine Seele bis dahin nicht in einem Klassenzimmer gefunden hast, wirst Du sie auch in einem Hörsaal nicht finden. Aber vielleicht tief in einem finnischen Wald, mitten in einem äthiopischen Dorf oder auf der Sitzbank eines amerikanischen Überlandbusses. Irgendwo, irgendwann, wenn Du es nicht erwartest.
Und ich hoffe, dass Du mich dann, wenn es losgehen soll, nicht mitleidig anschaust und sagst: »Das ist doch reine Zeitverschwendung.«
Dein Papa
Literatur zur Schulzeitverkürzung

Vera F. Birkenbihl: "Trotz Schule lernen", Ariston
Sabine Czerny: "Was wir unseren Kindern in der Schule antun", Südwest Verlag
Kurt A. Heller (Hrsg.): "Begabtenförderung im Gymnasium", Leske & Budrich
Remo H Largo / Martin Beglinger: "Schülerjahre: Wie Kinder besser lernen", Piper
Birgitta vom Lehn: "Generation G8", Beltz
Julia Strelow: "Ratgeber Nachhilfe", Books von Demand

Zeitungs-Zensur: Schüler verklagt den Freistaat

08.12.11Denklingen - Ein Zwölfjähriger zeigt Bayern, was Pressefreiheit heißt. Die Rektorin hatte die Verteilung seiner Schülerzeitung verboten. Stephan klagte dagegen – und bekam Recht.
© Peter Preller
Herausgeber Stephan Albrecht mit den zwei Ausgaben des „Bazillus“.
Stephan Albrecht aus Denklingen (Kreis Landsberg) ist zwölf Jahre alt, liest gerne „Die drei Fragezeichen“, und hat sich vor ein paar Tagen juristisch gegen den Freistaat Bayern durchgesetzt. Beim Verwaltungsgericht in München boxte der Zwölfjährige seine Schülerzeitung „Bazillus“ durch. Deren Verteilung nämlich hatte die Schulleiterin des Ignaz-Kögler-Gymnasiums in Landsberg, Oberstudiendirektorin Ursula Triller, zuvor verboten.
Die Begründung: Es gebe bereits eine Schülerzeitung, den „Virus“, aus diesem Grund dürfe keine zweite erscheinen. Eine Schülerzeitung reiche schließlich, um den pädagogischen Auftrag der Schule zu erfüllen. Fertig. Aus. Amen. Die Oberstudiendirektorin untersagte den „Bazillus“-Redakteuren – zwölf Kindern aus der sechsten und siebten Klasse – ihre Zeitung auf dem Schulgelände zu verteilen. Schriftlich. „Wir haben uns dazu mit dem Kultusministerium abgestimmt“, sagt Triller. Was dann folgte ist ein Lehrstück über Demokratie und Pressefreiheit. Vorgetragen von einem Siebtklässler.
Die Geschichte beginnt Pfingsten 2011. Stephan Albrecht will für die bestehende Schülerzeitung „Virus“ schreiben. Das Problem ist nur, dass es diese zu dem Zeitpunkt eigentlich nicht mehr gibt – seit einem Jahr ist sie nicht mehr erschienen. „Ich habe den Betreuungslehrer gefragt, wie das weitergeht“, sagt Stephan Albrecht. Der verweist auf die Rektorin, die verweist zurück auf „Virus“. Es geschieht nichts. Der Zwölfjährige nimmt das Heft selber in die Hand. Er trommelt ein paar Kinder aus der Unterstufe zusammen – gemeinsam bereiten sie eine eigene Zeitung vor, den „Bazillus“. Stephan Albrecht wird zum Herausgeber gewählt, seine Schwester Sophie, 10, wird Chefin der Anzeigenabteilung. Ihre Zeitung erscheint als freie Schülerzeitung, das heißt, die Schüler bzw. die Eltern sind für den Inhalt der Zeitung verantwortlich.
Im Juli erscheint der „Bazillus“, damals noch mit der Genehmigung der Oberstudiendirektorin Triller. Es gibt darin eine Witzeseite, einen Bericht über die Frauenfußball-WM, eine Geschichte über Italien-Urlaub. Dann die Kehrtwende. Schulleiterin Triller, das Kultusministerium im Rücken, besteht darauf: Es darf pro Schule nur eine Schülerzeitung geben. Gegen den Inhalt von „Bazillus“ hat sie nichts. Einen Entwurf der Schüler für eine zweite Ausgabe schickt die Schulleiterin zurück. Das war im Oktober.
Aber Stephan Albrecht gibt nicht auf. Er wendet sich an die Junge Presse Bayern, einen Medien-Verband. Man ist sich einig: So geht es nicht. „Ich habe Frau Triller wahrscheinlich 50 E-Mails geschrieben, vielleicht drei Mal eine Antwort erhalten“, sagt Stephan. In einer Antwort schreibt die Schulleiterin: „Die Hartnäckigkeit“, mit der der Zwölfjährige auf seiner Zeitung beharre, sei „geeignet, den Schulfrieden zu stören.“ „Bazillus“ darf in ihrer Schule nicht verkauft werden.
Der Bub wendet sich mit Hilfe seiner Eltern an einen Anwalt in Berlin. Der erwirkte vergangenen Freitag beim Bayerischen Verwaltungsgericht eine einstweilige Anordnung: Die Schülerzeitung darf verteilt werden. Dazu heißt es im richterlichen Beschluss: Ein freie Schülerzeitung brauche für die Produktion keine Genehmigung der Schulleitung, „damit keine irgendwie geartete Zensur stattfinden kann“. Das Kultusministerium teilte auf Anfrage mit, dass die Schule den Beschluss akzeptieren werde.
Patrick Wehner

Mittwoch, 7. Dezember 2011

Lesestrategien

Es gibt viele Darstellungen und Ideen, wie man Lesestrategien visuell umsetzen kann. Eine gelungene Umsetzung findet sich in den Band Deutsch.Punkt 4 (Bieseman, Jutta et al.; Stuttgart 2007) auf der Seite 162. Insgesamt erscheint mir, als Fachfremden, der nur durch Zufall in solche Bücher schaut, sehr modern und der Schwerpunkt auf den Bereich Texterchließung und Textproduktion gefällt mir. Zu meiner Schulzeit hatten wir so etwas noch nicht - zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Erst in der Uni wurden wir geschult, wie wir zB Exerpte und Mitschriften anzufertigen können - an dieses Integrierte Proseminar (IPS) erinnere ich mich gerne zurück. Unsere Schüler bekommen, wenn der Lehrer denn die Materialien nutzt, die es gibt, wirklich in dieser Hinsicht viel mehr Rüstzeug auf den Weg. Dieses Rüstzeug eignet sich ja dann wohl in allen Studienfächern - dies ist es wohl Kompetenzorientierung, wie sie sein sollte.

Dienstag, 6. Dezember 2011

Ungewißheit - von Barthold Hinrich Brockes


Ungewißheit

In dieser hellen Finsternis,
auf welcher wir auf Erden stecken,
wird ein Vernünftiger gar leicht entdecken,
daß alles Wissen ungewiß.
Die Ungewißheit geht sogar so weit,
daß man,
mit Recht und Zuverläßigkeit,
daß alles ungewiß, gewiß kaum sagen kann.

          
Barthold Hinrich Brockes (1680-1747)

via Lyrikmail (Nr. 2501  06.12.2011)  http://www.lyrikmail.de 

Montag, 5. Dezember 2011

When an adult took standardized tests forced on kids

This was written by Marion Brady, veteran teacher, administrator, curriculum designer and author.

By Marion Brady
A longtime friend on the school board of one of the largest school systems in America did something that few public servants are willing to do. He took versions of his state’s high-stakes standardized math and reading tests for 10th graders, and said he’d make his scores public.
By any reasonable measure, my friend is a success. His now-grown kids are well-educated. He has a big house in a good part of town. Paid-for condo in the Caribbean. Influential friends. Lots of frequent flyer miles. Enough time of his own to give serious attention to his school board responsibilities. The margins of his electoral wins and his good relationships with administrators and teachers testify to his openness to dialogue and willingness to listen.
He called me the morning he took the test to say he was sure he hadn’t done well, but had to wait for the results. A couple of days ago, realizing that local school board members don’t seem to be playing much of a role in the current “reform” brouhaha, I asked him what he now thought about the tests he’d taken.
“I won’t beat around the bush,” he wrote in an email. “The math section had 60 questions. I knew the answers to none of them, but managed to guess ten out of the 60 correctly. On the reading test, I got 62% . In our system, that’s a “D”, and would get me a mandatory assignment to a double block of reading instruction.
He continued, “It seems to me something is seriously wrong. I have a bachelor of science degree, two masters degrees, and 15 credit hours toward a doctorate.
“I help oversee an organization with 22,000 employees and a $3 billion operations and capital budget, and am able to make sense of complex data related to those responsibilities.
“I have a wide circle of friends in various professions. Since taking the test, I’ve detailed its contents as best I can to many of them, particularly the math section, which does more than its share of shoving students in our system out of school and on to the street. Not a single one of them said that the math I described was necessary in their profession.
“It might be argued that I’ve been out of school too long, that if I’d actually been in the 10th grade prior to taking the test, the material would have been fresh. But doesn’t that miss the point? A test that can determine a student’s future life chances should surely relate in some practical way to the requirements of life. I can’t see how that could possibly be true of the test I took.”
Here’s the clincher in what he wrote:
“If I’d been required to take those two tests when I was a 10th grader, my life would almost certainly have been very different. I’d have been told I wasn’t ‘college material,’ would probably have believed it, and looked for work appropriate for the level of ability that the test said I had.
“It makes no sense to me that a test with the potential for shaping a student’s entire future has so little apparent relevance to adult, real-world functioning. Who decided the kind of questions and their level of difficulty? Using what criteria? To whom did they have to defend their decisions? As subject-matter specialists, how qualified were they to make general judgments about the needs of this state’s children in a future they can’t possibly predict? Who set the pass-fail “cut score”? How?”
“I can’t escape the conclusion that decisions about the [state test] in particular and standardized tests in general are being made by individuals who lack perspective and aren’t really accountable.”
There you have it. A concise summary of what’s wrong with present corporately driven education change: Decisions are being made by individuals who lack perspective and aren’t really accountable.
Those decisions are shaped not by knowledge or understanding of educating, but by ideology, politics, hubris, greed, ignorance, the conventional wisdom, and various combinations thereof. And then they’re sold to the public by the rich and powerful.
All that without so much as a pilot program to see if their simplistic, worn-out ideas work, and without a single procedure in place that imposes on them what they demand of teachers: accountability.
But maybe there’s hope. As I write, a New York Times story by Michael Winerip makes my day. The stupidity of the current test-based thrust of reform has triggered the first revolt of school principals.
Winerip writes: “As of last night, 658 principals around the state (New York) had signed a letter — 488 of them from Long Island, where the insurrection began — protesting the use of students’ test scores to evaluate teachers’ and principals’ performance.”
One of those school principals, Winerip says, is Bernard Kaplan. Kaplan runs one of the highest-achieving schools in the state, but is required to attend 10 training sessions.
“It’s education by humiliation,” Kaplan said. “I’ve never seen teachers and principals so degraded.”
Carol Burris, named the 2010 Educator of the Year by the School Administrators Association of New York State, has to attend those 10 training sessions.
Katie Zahedi, another principal, said the session she attended was “two days of total nonsense. I have a Ph.D., I’m in a school every day, and some consultant is supposed to be teaching me to do evaluations.”
A fourth principal, Mario Fernandez, called the evaluation process a product of “ludicrous, shallow thinking. They’re expecting a tornado to go through a junkyard and have a brand new Mercedes pop up.”
My school board member-friend concluded his email with this: “I can’t escape the conclusion that those of us who are expected to follow through on decisions that have been made for us are doing something ethically questionable.”
He’s wrong. What they’re being made to do isn’t ethically questionable. It’s ethically unacceptable. Ethically reprehensible. Ethically indefensible.
How many of the approximately 100,000 school principals in the U.S. would join the revolt if their ethical principles trumped their fears of retribution? Why haven’t they been asked?

http://www.washingtonpost.com/blogs/answer-sheet/post/when-an-adult-took-standardized-tests-forced-on-kids/2011/12/05/gIQApTDuUO_blog.html

Light on the rights

"The “Light on the rights” documentary is a 10.000 km journey through fifteen European countries, offering insights into school student activism and the fight for school student rights. From 9th September to 23rd October 2010 OBESSU together its member..."
 

Kompetenzorientierung - Wirklich ein Allheilmittel?


Anschluß an eine Podiumdiskussion der GEW über Pro und Contra von Bildungsstandards und Kompetenzorietierung hat Peter Euler (Technische Universität Darmstadt) 10 Thesen zu kompetenzorientierten Bildungsstandards formuliert und zur Diskussion gestellt.
Auf dem Blog sind sie ganz zu finden. Ich habe mal versucht es zusammenzufassen, allerdings ist der Text sehr komprimiert und die letzten drei Punkte kann ich gar nicht mehr zusammenfassen.
  1. Die neueste Bildungsreform mit kompetenzorientierten Bildungsstandards im Gefolge der Pisa-Ergebnisse ist keine, die die Schule mehr zu dem machen könnte, was sie pädagogisch sein sollte. Im Gegenteil entspringt sie dem massiven Interesse an der Unterwerfung aller Lebensbereiche unter ökonomische Verwertungsbedingungen, wodurch Bildungspolitik explizit zu einem Teil der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik verkommt.
  2. Die verwendete Sprache der Reform ist die der Wirtschaft, die Instrumente aus der Betriebswirtschaftslehre und der pädagogischen Psychologie. Propagiert wird das „Unternehmen Bildung“, das der Sicherung und Steigerung der Lerneffizienz verpflichtet ist.
  3. Kompetenzorientierung“ heißt das Zauberwort! Von der bestehenden Unterrichtspraxis zeichnet die Reformpropaganda ein Zerrbild der Inputorientierung und Stofffixiertheit im lehrerzentrierten Unterricht, um von dieser Folie aus die neu ausgerufene „Schülerorientierung“ in hellstem Licht als Lösung alter und neuer pädagogischer Probleme erstrahlen zu lassen.
  4. Die Kompetenzorientierung als Erfolgsmittel ist nicht wissenschaftlich empirisch abgesichert.
  5. Die Pisa-Studien erheben lediglich Lernergebnisse, sie evaluieren keinen Unterricht bzw. keine Prozesse. Also ist es auch nicht möglich, bessere Prozesse aus den Ergebnissen abzuleiten.
  6. Kompetenzen gehören zur Bildung. Aber: Bildung geht nicht in der Summe von Kompetenzen auf.
  7. Die Diskrepanz zwischen Wissen und Verstehen ist zentral. Verstehen besteht in der individuellen Konstruktion im Gehirn jedes Einzelnen.
  8. Das Plädoyer für das „neue Unterrichtsskript“ wirft dem alten vor, „an der Vermittlung von Inhalten ausgerichtet“ gewesen zu sein (Lersch 2010). Da lauert die falsche Alternative, ob der Unterricht an der Sache oder am Schüler orientiert sein soll? Die Rede von Selbstbestimmung und Schüler-Orientierung verfängt gerne bei Pädagogen, aber entscheidend für ein pädagogisches Verhältnis ist, ob der Unterricht als Veranstaltung begriffen wird, dem Schüler die Sacherschließung zu ermöglichen. Erfolgt dies nicht, ist die Kompetenzorientierung eine leere Formel und in gänzlicher Übereinstimmung mit der neuen Rhetorik vom Input zum Output, vom Lehrer zum Berater/Coach, vom Lehren zum Lernen, und dann ganz steil: vom Lernen des Lernens, also von einem Lernen, bei dem das Lernen Inhalt ist, also keinen Inhalt mehr hat.
  9. Fallen Kompetenzbehauptung und Sachbezug auseinander, setzt die allerorten beobachtbare Beliebigkeit in der Begriffsverwendung ein und damit wird keine pädagogische Praxis besser. Dazu passt allerdings der allerorten feststellbare Qualitätsverlust durch die sog. Qualitätssicherung.
  10. Das Ende einer unpädagogischen Reform ist überfällig. Kaum ist irgendwo festzustellen, dass etwas besser geworden ist, aber Verschleiß, Frustration und Resignation sind allenthalben unter den Reformwilligen auszumachen. Notwendig ist eine die Bedingungen des Gelingens von Bildung und Pädagogik ernst nehmende Politik. Das verlangt eine beharrliche, politisch langfristig unterstützte und substanzielle, eben auch fachpädagogische Lehrer/innenbildung und Schulentwicklung, die nur durch solide Zusammenarbeit engagierter Lehrer/innen und Forscher/innen vorstellbar ist, nicht als top down Prozess eines Konsortiums. 
Auffällig ist, dass z.B. in der Biologie ja zu meinen Schüler- und Lehrerzeiten nie jemand die Fotosynthese einfach nur als Summenformel zum Auswendiglernen benutzt hat. Ohne das Verstehen der Fotosynthese macht die Zellatmung ja gar keinen Sinn. Sollte es wirklich Lehrkräfte geben, die nur sturres Auswendiglernen propagieren? Und wenn ja, würden just diese Lehrkräfte von dem Kompetenzbegriff umgarnt werden und machen nun gänzlich anderen Unterricht?
Ich glaube, dass in einigen Jahren, der Passus „Die Schüler können die Fotosynthese in ihrer Wichtigkeit erkennen und erklären.“ wieder zu einem schlichten „Fotosynthese“ wird. Anders gefragt: Gibt es Unterricht ohne Sozialkompetenz? Ist Unterricht in einer Gruppe nicht auch soziales Lernen? Sicherlich muss man immer optimieren und verbessern, aber nur durch das Paraphrasieren alter Lehrpläne ist es wohl nicht getan.

Derry Hannam


"The number of 14-24 year-olds in England who are self-harming so seriously that they require hospitalisation has nearly doubled in the last 10 years. 2000/2001 it was 22,000 - 2010/2011 it was 38,000!!! And what about the many more who never get to hospital?

What a system - we have inspectors and league tables to drive the teachers crazy - the 11+ (still exists in quite a few places), SATs, GCS...Es and A levels to drive the kids crazy and make over half of them feel useless - and then when it's too late we start talking about the need for 'healthy schools', 'well-being' and 'happiness in schools', and that 'we must do something' about youth unemployment.

It's all enough to make any intelligent person self-harm with frustration!!! Where is my nearest A&E department? Whoops they've all been closed in the cuts."


Derry Hannam:
Researcher/Adviser/Inspector/Consultant in the field of educational development and the creation of new learning systems.
and posts like that
are not availeble in germany, although it is postet ad youtube ... why?

Sonntag, 4. Dezember 2011

Choose Life - Trainspotting


John Hodge
Choose Life. Choose a job. Choose a career. Choose a family. Choose a fucking big television, choose washing machines, cars, compact disc players and electrical tin openers. Choose good health, low cholesterol, and dental insurance. Choose fixed interest mortage repayments. Choose a starter home. Choose your friends. Choose leisurewear and matching luggage. Choose a three-piece suite on hire purchase in a range of fucking fabrics. Choose DIY and wondering who the fuck you are on a Sunday morning. Choose sitting on that couch watching mind-numbing, spirit-crushing game shows, stuffing fucking junk food into your mouth. Choose rotting away at the end of it all, pishing your last in a miserable home, nothing more than an embarrassment to the selfish, fucked up brats you spawned to replace yourself.

Choose your future.

Choose life.


Steve Jobs Says This Will Be Your Greatest Life Revelation

"When you grow up you tend to get told the world is the way it is and you're life is just to live your life inside the world. Try not to bash into the walls too much. Try to have a nice family, have fun, save a little money.That's a very limited life. Life can be much broader once you discover one simple fact: Everything around you that you call life was made up by people that were no smarter than you and you can change it, you can influence it, you can build your own things that other people can use.Once you learn that, you'll never be the same again."
http://gizmodo.com/5864320/this-is-steve-jobs-greatest-life-revelation

Samstag, 3. Dezember 2011

Die Befreiung der Arbeit: Das 7-Tage-Wochenende

"Weltweit starren Manager fassungslos auf die brasilianische Firma Semco, eine sehr breit aufgestellte Dienstleistungsfirma, die von Industrieequipment bis zu Postlösungen in diversen Feldern tätig ist: Was dort passiert, widerspricht allem, an was sie glauben. Die 3000 Mitarbeiter wählen ihre Vorgesetzten, bestimmen ihre eigenen Arbeitszeiten und Gehälter. Es gibt keine Geschäftspläne, keine Personalabteilung, fast keine Hierarchie. Alle Gewinne werden per Abstimmung aufgeteilt, die Gehälter und sämtliche Geschäftsbücher sind für alle einsehbar, die Emails dafür strikt privat und wie viel Geld die Mitarbeiter für Geschäftsreisen oder ihre Computer ausgeben, ist ihnen selbst überlassen.

Respekt als Erfolgsrezept
Was für heutige Personalchefs klingen mag, wie ein anarchischer Alptraum, ist in Wirklichkeit eine Erfolgsgeschichte. Seit das Unternehmen von Inhaber Ricardo Semler umgestellt wurde, stiegen die Gewinne von 35 Millionen auf 220 Millionen Dollar. Und nicht nur die Zahlen geben Semler recht, sondern vor allem die Mitarbeiter: Die Fluktuationsrate bei Semco liegt unter einem Prozent.

Das Rezept ist einfach: Behandele deine Mitarbeiter wie Erwachsene, dann verhalten sie sich auch so. Je mehr Freiheiten du ihnen gibst, desto produktiver, zufriedener und innovativer werden sie. Ein Unternehmen besteht aus erwachsenen gleichberechtigten Menschen, nicht aus Arbeitskräften. Jeder hat das Recht, sich frei zu entfalten und eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben zu finden. Entgegen allem, was man aktuell zu glauben scheint, machen Druck und Stress Menschen nicht produktiv, sondern ganz einfach nur kaputt. Und dabei verliert das Unternehmen letztlich genauso wie der Mensch.

Es geht Semler um ein neues Verständnis von Arbeit: Eine Firma ist ein Gemeinschaftsprojekt, im besten Fall eine geteilte Leidenschaft. Die Gesellschaft hat uns das allerdings anders beigebracht, wir sollen uns als Steinmetze, Maler und Hilfsarbeiter sehen, nicht als Kathedralen-Schöpfer. Bei Semco sind die Mitarbeiter essenzieller Teil eines Ganzen, sie sind Mit-Schöpfer, nicht bloß ein Rädchen im System. Sie haben Ideen, sie verstehen ihre Arbeit, sie wissen, was sie wert ist.

Vertrauen statt Kontrolle
Aber unsere Personalchefs glauben noch immer, dass man Angestellte kontrollieren muss, über Stechuhren, feste Arbeitszeiten, Produktivitäts-Reports und Email-Spionage. Semco hat das alles aufgegeben und die Kontrolle durch Vertrauen ersetzt - und mal im Ernst: Wer will eigentlich mit Leuten zusammenarbeiten, denen man nicht trauen kann?

Für Semler ist der Kontrollwahn der meisten Unternehmen einfach nur noch verrückt. Seine Mitarbeiter erziehen ihre Kinder und wählen Gouverneure, es sind erwachsene Menschen, die selbst am besten wissen, was sie möchten und brauchen.

"Es ist völlig verrückt, diese Idee, dass die Menschen immer noch so fixiert darauf sind, wie etwas gemacht wird. Bei uns sagt keiner: 'Du bist fünf Minuten zu spät' oder 'warum geht dieser Fabrikarbeiter schon wieder aufs Klo?' [...] Wenn Du dich bei Semco im Büro umsiehst, sind da immer jede Menge leere Plätze. Die Frage ist: Wo sind diese Leute? Ich hab nicht die leiseste Idee und es interessiert mich auch nicht.

Es interessiert mich in dem Sinne nicht, dass ich nicht sicherstellen möchte, dass meine Mitarbeiter zur Arbeit kommen und der Firma eine bestimmte Anzahl Stunden pro Tag geben. Wer braucht eine bestimmte Anzahl Stunden pro Tag? Wir brauchen Leute, die ein bestimmtes Ergebnis abliefern. Mit vier Stunden, acht Stunden oder zwölf Stunden im Büro - sonntags kommen und Montags zu Hause bleiben. Es ist irrelevant für mich", erklärt Semler seltsam einleuchtend.

Keine Hierachie, dafür Teams
Semco ist etwas, dass es laut dem Menschenbild heutiger Manager eigentlich gar nicht geben dürfte. Und wenn doch, dann dürfte es nicht funktionieren. Tut es aber. Drei Fragen hört Semler immer wieder: Macht ihr das wirklich so? Funktioniert es ganz im Ernst? Und: Was jetzt?

Die ersten zwei sind einfach zu beantworten: "Wir machen das jetzt seit 25 Jahren, so ziemlicher jeder, den es wirklich interessiert, ist hergekommen, um zu sehen, ob es wahr ist. Und unsere Zahlen sind über jeden Zweifel erhaben", sagt Semler selbstbewusst.

Für ihn ist war das Aufbrechen der Unternehmensstruktur von Anfang an keine Traumtänzerei, sondern vielmehr die einzig mögliche Antwort auf unsere unmenschliche Arbeitswelt. Er hat es auf die harte Tour gelernt, wachte selbst erst auf, als er kollabierte und mit Komplett-Burnout in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Das war der Punkt, an dem er beschloss, seine geistige und körperliche Gesundheit nie mehr dem Job unterzuordnen - und das auch von seinen Angestellten nicht zu verlangen. Dass der Wahnsinn ein Ende haben muss.

"Wenn man es sich genauer ansieht, muss man feststellen, dass das traditionelle System nicht funktioniert. Und das ist der Anreiz, sich nach etwas anderem umzusehen" - so einfach sieht Semler das.

Doch es fehlt vielen Unternehmern noch immer schwer, die Kontrolle loszulassen. Denn heutige Firmen sind nicht aufgebaut wie Orte des Schöpfens, sondern wie das Militär: mit einer hierarchischen Machtstruktur, mit Befehlsgebern und -empfängern. Semco hingegen ist in konzentrischen und durchlässigen Kreisen aufgebaut, es gibt keine Arbeitstitel, keine festen Büros. Niemand muss zur Arbeit kommen, ob von zu Hause, aus dem Dschungel oder einem Cafe an der Strandpromenade gearbeitet wird, ist den einzelnen Mitarbeitern und Teams selbst überlassen.

Diese Teams sind das Herzstück von Semco. Die Menschen arbeiten in Gruppen, die jeweils ein Produkt oder ein Zwischenprodukt selbstständig fertigstellen. Wie sie das machen, in welcher Zeit und mit welchem Geld, das ist ihre Sache. Wer zwischendurch schlafen will, geht einfach in den Firmengarten und legt sich für ein paar Stunden in die Hängematte - wer müde ist, macht ja eh nur Fehler.

Die Firma ohne Personalabteilung
Semco hat 3000 Mitarbeiter, aber keine Personalabteilung, da steht dem traditionellen Unternehmer der Angstschweiß auf der Stirn. Wer stellt diese Leute ein? Wer überprüft die Leistung?

Das machen die Angestellten alles selbst. Stellt ein Team fest, dass eine neue Person gebraucht wird, schreibt sie im Intranet der Firma ein entsprechendes Meeting aus. Das ist natürlich freiwillig: Alle können kommen, keiner muss.

"Wir wollen nicht, dass irgendwer in etwas verwickelt wird, was ihn nicht interessiert, deshalb sind alle Meetings freiwillig. Das heißt die Meetings werden bekanntgegeben und wer interessiert ist, kann und wird vorbeikommen und soll in dem Moment den Raum wieder verlassen, wenn es anfängt, ihn zu langweilen", erklärt Semler die Meeting-Philosophie.

Leute, die mitten in einem Meeting gehen, weil es sie langweilt - das würde so manchen Vorgesetzten in den Wahnsinn treiben. Aber bei Semco sollen eben nur die Menschen eine Entscheidung treffen und tragen, die es unmittelbar angeht und interessiert.

Auf so einem Meeting könnte zum Beispiel beschlossen werden, dass neuer Mitarbeiter gebraucht wird und was er oder sie können muss. Dann wird gemeinschaftlich eine Annonce geschrieben, und sobald die Bewerbungen kommen, werden sie im Team aufgeteilt: Jeder, der möchte, nimmt einfach ein paar mit nach Hause und bringt die interessantesten dann wieder mit. Statt Vorstellungsgesprächen gibt es ein Gruppengespräch mit allen Kandidaten gleichzeitig - auch hier darf kommen, wer will.

Die einzigen Mitarbeiter, die regelmäßig formal bewertet werden, sind jene in Entscheidungs-Positionen - und zwar von allen anderen. Sollte einer dieser Manager wiederholt schlechte Bewertungen kriegen, geht er für gewöhnlich von selbst.

Gruppenzwang
Tatsächlich regeln die Teams fast alles unter sich. Macht jemand keinen guten Job, so wird das im Team diskutiert, oder ein Meeting einberufen. Wer sich ein hohes Gehalt zuteilt, erhöht damit auch die Erwartungen des Teams und den Leistungsdruck. Aber auch die Mitarbeiter haben mittlerweile ein anderes Verhältnis zur Arbeit: Wenn jemand einen Haufen Geld verdient, die ganze Woche eigentlich nur Golf spielt, aber trotzdem einen guten Job macht und seine Aufgaben erledigt - wen kümmert's dann? Was zählt, ist das Ergebnis.

Eine Studie von CNN hat festgestellt, dass die Mitarbeiter bei Semco eine sehr viel gesündere Balance zwischen Privatleben und Beruf haben, sich mehr Zeit für Beziehungen, Kinder und Hobbys nehmen, aber gleichzeitig auch ungewöhnlich hohen Einsatz und bemerkenswerte Leistungen im Beruf zeigen. Nicht trotz, sondern wegen der Freiheiten. Für Semler ist das wenig verwunderlich: Menschen müssen sich entfalten können, um ihr Potenzial optimal einzubringen.

Und es funktioniert
Semler ist sich sicher: Sein Konzept funktioniert überall. Er selbst hat es in Fabriken ebenso eingesetzt, wie in IT-Büros. Tatsächlich ist es eigentlich andersherum - es funktioniert überhaupt nur so. Unsere derzeitige Arbeitswelt mit ihren Burn-Out-Syndromen, mit Mobbing, Stress, Magengeschwüren und Depressionen funktioniert nämlich eben nicht, sie ist fortgesetzter Wahnsinn.

Es wird Zeit, dass wir eine Gesellschaft erschaffen, in der Beruf wieder mit Berufung und Leidenschaft assoziiert wird, nicht mit Sklaverei und Ausbeutung. In der Menschen wieder freie Entscheidungen treffen können und mit Respekt behandelt werden. In der Privatleben und Arbeit gleichwertig sind – auch für die Vorgesetzten. Es wird Zeit für das 7-Tage-Wochenende!
Von Ricardo Semmler sind mehrere Bücher erschienen darunter: "The Seven-Day Weekend: A Better Way to Work in the 21st Century" und "Das Semco System: Management ohne Manager"."
http://www.sein.de/gesellschaft/neue-wirtschaft/2010/die-befreiung-der-arbeit-das-7-tage-wochenende.html