Montag, 24. Juni 2013

Gabriele Frydych: Ich kann zaubern

Gabriele Frydrych
Ich kann zaubern
Das behauptet EF-Autorin Gabriele Frydrych nicht freiwillig. Sondern weil es von ihr erwartet wird. Schließlich ist sie Lehrerin.
Ich liebe meinen Beruf. Denn das Vertrauen, das die Gesellschaft in mich setzt, ist geradezu grenzenlos. Das fängt schon bei den lieben Kleinen an. Selbstkritische Schüler, die schon lange nicht mehr an Klapperstörche und Weihnachtsmänner glauben, halten mich für allmächtig.
Mittwoch. Ich stehe vor der geschlossenen Schulbücherei und überlege, wie ich an meine Lesebücher komme.
„Wissen Sie, wo Herr Quäler gerade Unterricht hat?" Der junge Mann aus der 7. Klasse sieht mich fragend an. Na klar, ich kenne den individuellen Stundenplan aller 120 Kollegen und Kolleginnen auswendig und kann sofort helfen: "Raum 117. Da hat er jetzt Physik. Wenn du ihn dort nicht findest, ist er im Computerraum." Eine Routinefrage, beantworte ich aus dem Effeff.
Aber ich habe auch keine Probleme mit anderen Fragen: „Wissen Sie, was auf Chinesisch Viel Glück' heißt?", n Wie berechnet man die Elastizität eines Gummibärchens?", "War Tschaikowsky wirklich schwul?" Fragt mich! Ich weiß alles!
Meine Schüler erwarten von mir auch Antworten auf die Frage, wer in der vorigen Woche ihren Tisch beschmiert, aus ihrer Flasche getrunken, ihren Radiergummi oder ihren MP3-Player geklaut hat: Der Blick der Kinder ist flehend, aber voller Zuversicht. Natürlich finde ich die Schmierer und Mundräuber und jage erfolgreich den MP3-Player, der in der Zwischenzeit dreimal weiterverkauft worden ist.
Ich habe einen Aufsatz schreiben lassen: "Wie sinnvoll sind Schuluniformen?" Eine Stunde später fragt mich
Klara: "Wissen Sie schon, was für eine Note ich habe?" Natürlich weiß ich das. Ich hatte zwar zwischendurch Unterricht, aber ich habe heimlich unterm Lehrertisch 25 Aufsätze korrigiert. Dabei konnte ich sogar noch verfolgen, was meine Referenten in Geschichte für Unsinn erzählen. Sie haben herausgefunden, dass Martin Luther King gegen die Gleichberechtigung der Schwarzen war und dass George Washington 1994 Präsident geworden ist.
Einige Schüler glauben ja auch, dass Bismarck im Ersten Weltkrieg die Mauer gebaut hat. Aber ich schaffe es, ihnen in einem Schuljahr ein Geschichtsbild zu vermitteln, das Orientierung und Halt gibt. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart. in zwei Wochenstunden, wovon meist eine von Bürokratie und Organisation besetzt ist. Kein Problem. Der Schulsenator und die Rahmenplankommission glauben an mich. Ich will sie nicht enttäuschen. An meine pädagogische Omnipotenz glauben auch die Kindseltern fest. Eine Mutter erklärt am Telefon: „Ich habe gar keinen Einfluss auf Max-Xaver. Keine Ahnung, wie ich ihn dazu bringen soll, regelmäßig in die Schule zu gehen.
Vielleicht finden Sie ja einen Zugang zu ihm!" In meiner 9. Klasse sind 32 Jugendliche. Fast alle haben Probleme mit sich und mit dem Leben ganz allgemein. Aber ich finde Zeit, Mittel und Wege, um jeden einzeln anzusprechen, seine Lernschwierigkeiten und seine besonderen Fähigkeiten zu eruieren und Lernwege individuell abzusprechen.
Ich hole Schwänzer ins Boot zurück, löse Schweigsamen die Zunge, finde für Sarah nettere Eltern und für Torben einen krisensicheren Job.
Gar kein Problem. Dafür bin ich doch da. Nebenbei fülle ich Statistiken aus, hefte Zettel und Formulare in
Schülerbögen, organisiere eine Reise in die Türkei, eine Partnerschaft mit einer sibirischen Schule, ein
Theaterprojekt und eine Exkursion nach Hamburg. Den umfangreichen Lehrplan habe ich bereits in Klasse 7 und 8 für alle meine Fächer erfüllt, deshalb habe ich jetzt genug Zeit für solche Aktionen. Und ich schaffe bei Max-Xaver in vier Wochenstunden, was seine Eltern in 17 Jahren nicht erreicht haben. Meine Zauberhand macht ihn sozial kompatibel und leistungsstark. Ich kann auch durch Wände sehen. Wenn Eltern spontan in die Schule kommen, weiß ich genau, was ihre Tochter gerade in Mathematik lernt und welche Probleme ihr Sohn in Spanisch hat. In meiner Klasse unterrichten in zahlreichen Leistungskursen 35 Lehrer, die sich in sechs verschiedenen Lehrerzimmern aufhalten. Da ist es doch kein Kunststück, als Klassenlehrerin aktuell informiert zu sein.
Am meisten setzen „Bildungsexperten" und Journalisten auf meine Fähigkeiten. Sie haben recht! Ich werde meine Schüler zu einem schulden- und drogenfreien Leben führen, ihnen Ich-Stärke, Kultur und Kompetenzen vermitteln.
Sie werden freudig im Team arbeiten, lebenslang lernen, sich nahtlos in die Wissensgesellschaft einfügen (und
ihren Kindern erzählen, was sie für eine tolle Lehrerin hatten).

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